Akzente_Wiener Festwochen: Leoš Janácek - Aus einem Totenhaus

Große Kunst im Straflager

Wer als Opernfreund vom aktuellen Personenkult und dem ewigen Wiederkäuen alter Schinken genug hat, konnte sich im Mai davon überzeugen, wie Oper wirklich klingen kann - und muß. Den Herren Boulez und Chéreau sei Dank ...    22.05.2007

Findet sich im Bereich der klassischen Musik einmal ein Paar, das auf der Bühne oder dem Konzertpodium optisch und stimmlich auch nur halbwegs zu beeindrucken weiß, so wird der musikinteressierte Mensch von den niveaulosen "Kulturmedien" sogleich mit Attributen wie "Traumpaar", "Dreamteam" und ähnlichem Schmafu belästigt. Nicht selten haben die Leute, die da gleich zu "Weltstars" ernannt werden, die Beständigkeit einer Seifenblase: Sie schweben irgendwie im luftleeren Raum herum, werden von Gesellschaftsreportern öfter abgelichtet als von Kulturberichterstattern, zerplatzen schnell und sind noch schneller wieder vergessen.

Ein echtes Traumpaar war allerdings bei den Wiener Festwochen 2007 zu bewundern. Das dynamische Duo Pierre Boulez/Patrice Chéreau ist der Weltöffentlichkeit bereits seit 1976 und dem legendären Bayreuther "Ring" ein Begriff. Die bewährte Zusammenarbeit der beiden Stars setzte sich dann mit der grandiosen Oper "Lulu" von Alban Berg fort und gipfelte letztlich in der absolut einzigartigen Festwochenproduktion der Leoš-Janácek-Oper "Aus einem Totenhaus", die in Wien bisher nur äußerst selten zu sehen und hören war. (Zuletzt zeigte die Wiener Volksoper 1981 eine beeindruckende Aufführung.)

Die aktuelle Festwochenproduktion war der Auftakt einer Welttournee, die nach Aix-en-Provence über Mailand und das Holland-Festival letztlich nach New York in die Metropolitan Opera führen wird. Für Reiseunwillige und die Nachwelt wird sie von der Plattenfirma Universal zusätzlich auf DVD festgehalten ...

Einen bitteren Beigeschmack hat das musikalische Gustostückerl jedoch: Maestro Pierre Boulez nimmt damit seinen Abschied vom Orchestergraben der Opernbühne. Wie schmerzhaft dieser Verlust ist, bewies diese Aufführung in Wien.

Doch nun zum Werk: Der mährische Komponist Leoš Janácek schrieb seine grandiose Oper nach einer Romanvorlage von Fjodor M. Dostojewskij. Leider konnte er ihre Uraufführung am 12. April 1930 im Brünner Nationaltheater jedoch nicht mehr miterleben, da er bereits 1928 verstarb.

"Aus einem Totenhaus" ist weder Bravourstück für Solisten noch Ohrenschmeichler, sondern ein packendes Musikdrama, das für virtuose Künstler und ein ebensolches Orchester komponiert wurde. Angesiedelt ist das Werk in einem Straflager in Sibirien, in einer Gesellschaft, die absolut keine Perspektive mehr hat. Eine echte Handlung oder die Konzentration auf bestimmte Protagonisten fehlen; stattdessen bestehen die 105 Minuten aus einer Aneinanderreihung der Schicksale einzelner Personen, die aus ihrem Leben erzählen und damit kurz an die Oberfläche kommen, um dann ebenso rasch wieder in der Masse zu verschwinden.

 

Natürlich ist eine solcher Erzählstruktur für jeden Regisseur eine gewaltige Herausforderung. Bisher konnte keiner diese Aufgabe besser bewältigen als der französische Bühnenvirtuose Chéreau. Intelligenterweise wurden die drei Akte ohne Pause aufgeführt, damit die dramaturgische Dichte nicht zerstört wird. Chéreau versteht es, aus jeder Erzählung ein Seelendrama zu machen, ohne das Gesamtbild zu verletzen. Grandios war auch die Darstellung des "Theaters im Theater", wo die Gefangenen Festgästen (und natürlich sich selbst) ein wenig Freude bereiten können.

Einzigartig war auch die musikalische Qualität der Aufführung. Pierre Boulez erarbeitete mit dem Mahler Chamber Orchestra die schwierige Partitur und setzte die Noten in berückende Klänge um - angefangen vom Prélude, das viele Elemente des Orchesterwerkes "Sinfonietta" hat und mit Kettengerassel schließt, über den schrägen Walzer am Schluß des zweiten Aktes bis hin zu den volksliedhaften Elementen in den einzelnen Erzählungen. Dem Dirigenten gelang der Spagat, extreme Transparenz und musikalische Dichte zu vereinen. Man kann und will sich gar nicht vorstellen, daß das tatsächlich Boulezs Abschied sein soll ...

Wer das Pech hatte, diese bravouröse Aufführung nicht live erleben zu können, der muß wohl auf den DVD-Mitschnitt der Universal warten. So kann die Nachwelt wenigstens via Bildschirm erleben, wie unprätentiös große Oper nur ein paar hundert Meter vom "ersten Haus" am Ring entfernt klingen kann: ganz ohne plakativen Personenkult, dafür aber als lebenslanger Erinnerungsstempel in der Seele.

Herbert Hiess

Wiener Festwochen 2007: Leoš Janáček - Aus einem Totenhaus

(Z mrtvého domu)


Oper in drei Akten (1927/28)

Libretto von Leoš Janáček nach F. M. Dostojewski

 

Musikalische Leitung: Pierre Boulez

Inszenierung: Patrice Chéreau

Inszenierung Künstlerische Mitarbeit: Thierry Thieû Niang

Bühne: Richard Peduzzi

Kostüme: Caroline de Vivaise

Licht: Bertrand Couderc

Maskendesign: Campbell Young

Bühnenmusiker: Michael Draskovits

Orchester: Mahler Chamber Orchestra

Chor: Arnold Schoenberg Chor

Künstlerische Leitung Erwin Ortner

Choreinstudierung: Jordi Casals

 

Mitwirkende: Olaf Bär, Eric Stokloßa, Heinz Zednik, John Mark Ainsley u. a.

 

Aufführung im Rahmen der Wiener Festwochen/Theater an der Wien

12., 14., 16. & 18. Mai 2007

 

Produktion: Wiener Festwochen

Koproduktion: Holland Festival, Amsterdam, Festival d´Aix-en-Provence, The Metropolitan Opera, New York, Teatro alla Scala, Mailand

Photos: Ros Ribas

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