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Schmauchspuren #32

Können ausgeglichene, in Harmonie mit sich und der Welt lebende Menschen überhaupt gute Ermittler sein? Oder kann man im Abgrund nur etwas erkennen, wenn der Abgrund lang und intensiv zurückgeblickt hat? Krimikritiker Peter Hiess wird philosophisch.    06.08.2014

Peter Hiess

Nora Miedler - Die Musenfalle

Ariadne/Argument Tb. 2010

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ily Sommer ist faul. Sie trinkt zuviel, kifft zuviel, hat kaum echte Freunde, geht aber mit dem Erstbesten ins Bett, wenn ihr danach ist. Eine Schlampe, könnte man sagen. Aber Moment - sind das nicht genau die Eigenschaften, die wir Krimileser an unseren abgehalfterten Privatdetektiven und Noir-Helden so bewundernswert finden?

Die Österreicherin Nora Miedler spielt in ihrem zweiten Roman Die Musenfalle mit Erwartungen: Ihre Protagonistin Lily ist nicht einmal eine richtige Detektivin, sondern eine Möchtegern-Schauspielerin, die in einer WG haust und nach einem Job in der Geisterbahn endlich einen Zweijahresauftrag fürs Werbefernsehen in Aussicht hat. Natürlich schläft sie gleich mit dem Chef der Firma, für die sie werben soll; eh nichts Besonderes, aber ihr war halt grad danach. Und natürlich wird der kurz danach umgebracht (so wie sein guter Freund, ein prominenter Anwalt), und die Polizei steht vor Fräulein Sommers Tür. Jetzt liegt es an ihr, das Rätsel zu lösen, zusammen mit dem Sohn des Ermordeten und einem versoffenen Fast-Oscar-Preisträger, der in einer Detektei aushilft.

Die Musenfalle ist - trotz etwas zu häufiger Erzählerwechsel - noch besser als Miedlers Debüterfolg Warten auf Poirot, weil die Autorin stets überrascht: Die scheinbare Auflösung zielt auf ein aktuelles, zu oft verwendetes Krimiklischee, aber dann ist erfreulicherweise doch wieder alles anders. Ein Twist folgt dem anderen, ohne je zu nerven, unwahrscheinliche Konstellationen treffen auf radikale Lösungen, und der Schluß ist so finster, wie man sich das nur wünschen kann. Ein neuer Höhepunkt der deutschsprachigen Krimiszene.

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Russell Atwood - Losers Live Longer

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

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Apropos abgehalfterter Privatdetektiv: Genau das ist auch Payton Sherwood, der zweifelhafte Held des 59. Bandes der US-Reihe Hard Case Crime. Allerdings handelt Russell Atwoods Roman Losers Live Longer im New Yorker East Village, wo der Ermittler in seinem fast leeren Büro auf Aufträge wartet. Und dann kommen gleich mehrere auf einmal: Ein legendärer Private Eye im Ruhestand hat einen Beschattungs-Job für ihn, kommt aber vor Sherwoods Haustür ums Leben; ein Millionär will seinen gestohlenen iPod zurück; ein flüchtiger Wirtschaftsverbrecher soll geschnappt werden - und zwischendurch gibt´s noch tote Fernsehstars, osteuropäische Kinderpornoringe und jede Menge fatale Damen. Wäre Payton nicht so ein Verlierer, dann wäre er tatsächlich längst tot ...

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Jonathan Nasaw - Der Sohn des Teufels

Heyne Tb. 2010

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Das scheint auch das Motto dieser Kolumne zu werden: Verlierer bringen es einfach viel weiter, zumindest in der aktuellen Thriller-Szene - und zwar nicht nur als Kriminalisten, sondern auch als Mörder. Man nehme nur Jonathan Nasaws neues Werk Der Sohn des Teufels. Da ist der vorgebliche Rachekiller ein White-Trash-Bub, der immer nur Pech hatte; der FBI-Agent ein dicker, schlechtgekleideter Mensch mit einer Vorliebe für Spirituosen und Junk-Food; das ganze Land eine Brutstätte für Psychopathen und Unfähige. Und der Verlag Heyne kommt daher, gibt The Boys From Santa Cruz diesen irreführenden Titel, versucht das Buch im Klappentext als x-te Variante auf Das Schweigen der Lämmer und "Einblicke in den Kopf eines Serienmörders" zu verkaufen und liefert eine Übersetzung, die zu eng am Original pickt. So kriegen Taschenbuchkrimis den Ruf, Massenware für Loser zu sein.

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Gerhard Loibelsberger - Reigen des Todes

Gmeiner 2010

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Sind Sie aber natürlich nicht - sie müssen nur gut geschrieben und pfleglich lektoriert sein - wie zum Beispiel Reigen des Todes, Gerhard Loibelsbergers historischer Kriminalroman aus dem alten Wien, erschienen im auf Regionalkrimis spezialisierten Gmeiner-Verlag. Auch hier wird viel gegessen, getrunken und im Kaffeehaus schwadroniert, aber in Wien darf man das nicht nur, da muß man das. Die Story um die am Donaukanal aufgefundenen Leichenteile, Sandler, Gerichtsreporter und den beleibten Kriminalinspector Nechyba ist dabei trotzdem witzig, glaubwürdig und informativ, vor allem, wenn man sich für Lokalhistorie interessiert. Mehr als ein Geheimtip!

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Gemischtes Doppel


Wenn Sie jetzt noch wissen wollen, was Ihr Krimirezensent in den Sommerferien erlebt hat: Er hat - viel zu spät - John Connollys großartige Romane um den Expolizisten Charlie Parker (nein, der hat mit Jazz überhaupt nichts zu tun) und dessen Kampf gegen das Böse entdeckt und liest sie jetzt in der richtigen Reihenfolge und im Original, angefangen mit Every Dead Thing. Wenn Sie diese Serie bisher auch verpaßt haben, sollten Sie dringend etwas dagegen tun.

Ebenfalls zur Pflichtlektüre wurde die Website von Mulholland Books, dem neuen Krimi-Imprint des US-Verlags Little, Brown & Co. Der Erstling der vielversprechend anspruchsvollen Mulholland-Reihe wird zwar erst im April 2011 erscheinen, doch schon seit August gibt es an jedem Werktag einen Artikel von oder ein Interview mit den besten zeitgenössischen Krimiautoren über ihre Werke, ihre Arbeit, die Kollegen oder das Genre im allgemeinen. Bitte täglich hinklicken auf: www.mulhollandbooks.com

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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