Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #9

Stechen und Schneiden

John Fare war das sich selbst dekonstruierende Konstrukt, GG Allen hingegen "the real thing". Lauschen Sie Rokko, wenn er über den Mann erzählt, der Suizid auf der Bühne begehen wollte - und dabei gleich noch die Jim-Jones-Nummer abziehen.    20.11.2008

My mind is a machine gun, my body is the bullets and the audience is the target.

 

Obiges Zitat: GG Allin, getauft Jesus Christ Allin, 1956 in Lancaster, New Hampshire geboren und in einer Waldhütte ohne fließendes Wasser und Elektrizität in einem sehr strengen und äußerst eigenartigen Elternhaus aufgewachsen. Seine Erzeuger gehörten zu jener Art von Gläubigen, die ihrem Sohn den Namen des Erlösers geben und ihn dann in Frauenkleidern zur Schule schicken. Mit seinen Performances, während der er seine Fäkalien aß und ins Publikum warf, sich selbst und die Zuschauer verprügelte, sich Mikrophone in den After steckte und mit Frauen sexuell verkehrte, wurde er zu einer der kompromißlosesten Bühnenfiguren der (Musik-)Geschichte. Die Meinungen über ihn driften weit auseinander: für die einen ein mißverstandenes Genie, für die anderen ein soziopathischer Vergewaltiger.

Der gefährlichste Rocker, der sich je einen Erdenbürger nennen durfte, oder ein Spaßäffchen, das auf Befehl seine durchchoreographierte Show abzieht? Der bad guy und einzig echte Punk oder ein armseliges Häufchen verirrter Selbstinszenierung, ein harmloses Stehaufmännchen oder die authentische Personifizierung vom scum of the earth? Trotz all seiner Extreme wird wohl auch GG Allin den Weg der goldenen Mitte wählen müssen: halb Chef seiner eigenen Gedanken, halb "eine arme Seele, verloren und fehlgeleitet" (Zitat: Natascha Kampusch). Obwohl also sterblich und ebenso menschlich, war GG Allin eine faszinierende Persönlichkeit, die von einem Mythos umgeben und geschützt wird, der mit Sicherheit zwar nur teilberechtigt ist, aber warum sollte ich am Lack kratzen? Das würde nur wehtun, und außerdem bin ich hier nur auf Urlaub. Des weiteren ist GG Allins Aura so real, daß sie zu leugnen viel mehr falsch wäre, als ihre genauso realen Folgen anzuerkennen.

 

Drink, Fight and Fuck!

 

Die Musik: großteils plumpes Dorfpunkgeschredder (wobei er zwischendurch auch Spoken-Word-Shows und Rolling-Stones-artige Töne von sich gab) mit Saufen bis zum Umfallen und dem Fressen der eigenen Auswürfe. Kein Wort mehr darüber. Obwohl, zu beachten sind vielleicht die Texte, wenn es etwa heißt "Assface honey that´s what you got/Sisyphus baby you can suck my cock/Assface (YEAH!) that´s what I said/In place of a face you gotta ass instead" oder "So you´re dead and gone, I´ll fuck your anal cunt/A lifeless piece of flesh, I´ll molest it if I want” - Freud hätte seinen Spaß daran gehabt.

Berühmt und berüchtigt aber - und jetzt wären wir beim Thema - sind die Shows des Herrn, der der Legende nach acht Jahre ungewaschen verlebte: unberechenbare Performanzen, bei denen zuerst wahllos ins Publikum getreten wurde, es folgten sexuelle Übergriffe und eine Menge Fäkalien und andere Körpersäfte, woraufhin dann irgendwann das Ende der Show durch einen mehrere Personen involvierenden Krawall oder durch die Ankunft der auf Ordnung drängenden Pozilei bestimmt wurde. GG Allin schlug aber nicht nur Konzertbesucher und Exekutivbeamte zusammen, sondern bestand auch inständig darauf, sich selbst zu massakrieren und von anderen mißbraucht zu werden. So legte er sich mitunter auf den Boden, um sich solange in den Mund urinieren zu lassen, bis er sich übergeben konnte.

In diesem Stil tingelte er mit verschiedenen Backup-Bands jahrelang durch die Vereinigten Staaten Amerikas, halste sich hier und da Gefängnis- oder Geldstrafen auf und wurde einzelner Bundesstaaten auf längere Zeit verwiesen. (Heutzutage reicht dazu schon ein kleines Witzchen.)

 

Direktor im eigenen Gefängnis

 

Der Spirit von Elvis gehört in die Gosse, drauf scheißen und den Kopf reinstecken - aber zackizacki. Für GG Allin sind nämlich alle Rock´n´Roller - außer ihm selbst - bloß Unterhaltungskünstler, die kein authentisches Gebaren, sondern eine erbärmliche Show im Sinne einer berechenbaren und aufgesetzten Marotteninszenierung aufziehen: "Aber ich, ich bin dort draußen, um zu vernichten. Meine Performances sind die Entfesselung der verschlossenen Gefühle aus meinem tiefsten Inneren. Das wilde, ungezähmte menschliche Tier. Darum gibt es auf meiner Rock´n´Roll-Bühne weder Ordnung noch Gesetz. Deswegen bestehen meine Shows aus echter Gewalt, Wildheit und Blutbädern. Das Resultat ist, daß man auf einer meiner Shows mehr verschissene Polizisten finden wird als an einem Mordschauplatz. Aber das ist mir scheißegal. Das ist der Punkt, an dem ich mich von den anderen abspalte. Ich bin echt, sie sind es nicht."

In diesem Sinne führt GG Allin sein Leben also offenkundig und unverfälscht aus, um von anderen - dann doch wieder - als Künstler rezipiert zu werden. Sein Antrieb war der Haß, seine Botschaft dessen explizite Wachrüttelung, verbreitet durch Provokation, Fausthiebe und - wir ahnten es bereits - Scheißhaufen. Rohe Gewaltverherrlichung, die ohne Konzept oder Beipackzettel zur Ästhetik wird und dann doch die Frage in den Raum stellt: Gibt es einen zweiten GG Allin, das unverstandene Sensibelchen, das aus Selbstschutz diese undurchdringliche Mauer um sich gezogen hat? Aus dieser Zweischneidigkeit ergab sich auch ein schizophrenes Verhältnis im künstlerischen Sinne: Seine Anwälte zum Beispiel mußten bei Gerichtsverhandlungen immer versuchen, ihn als ernsthaften Performer gelten zu lassen und seinen artsy fartsy-Wert betonen. Ein Meister der Skatalogie in der Tradition avantgardistischer Aktionen sei er, kein asozialer Perversling, der nach seinen eigenen Gesetzen lebt, um längerfristig die Gesellschaft niederzumetzeln.

Sein durchaus interessantes Weltbild erklärte er 1990 in einem von George Petros geführten Interview im "Seconds Magazine" #12: "Ich betrachte die Welt um mich als einen Film, und ich existiere komplett außerhalb dieses Bereiches. Ich sehe mich als einen Typen, der mit einem Hammer herumgeht und jeden Moment dazu bereit ist, den Bildschirm zu zerschmettern." Narzißtische Ansagen, unterstützt von einem Echtheitszertifikat aus gebrochenen Knochen, fließendem Blut, frischgepreßten Spermatoziden und warmer Scheiße direkt aus dem Arsch.

 

art for art´s sake violence for violence´s sake

 

1988 schrieb GG Allin der Zeitschrift "Maximum Rock´n´Roll", daß er zu Halloween 1989 seinen Suizid auf der Bühne inszenieren und möglichst viel Publikum mitreißen würde. Leider war er an besagtem Tag als Häftling in einem Gefängnis angestellt, und so sollte sich Halloween hinter Gittern auch die nächsten Male wiederholen. Dieses nicht eingelöste Versprechen wurde ihm lange angekreidet, auch unterstellte man ihm, damit einen billigen Promo-Gag in die Welt gesetzt zu haben und selbst nur ein Püppchen im Marionettentheater zu sein.

In einem Interview, erschienen in Adam Parfreys "Apocalypse Culture", meinte er noch: "Ich will nicht bloß ein weiterer Junkie sein, der mit einer Nadel in seinem Arm stirbt. Ich will die Spannung fühlen, wenn mir die Kugel den Kopf wegpustet. Ich möchte diesen Nervenkitzel nicht missen. Warum nicht sterben und es auch fühlen? Den Schmerz und die Gefahr fühlen?" Das zumindest ist eine Ankündigung, die er nicht einhalten konnte: 1993 starb er im Alter von 36 Jahren in New York an einer Überdosis Heroin.

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #2

(erschienen Dez. 2007)


Text: Rokko

Photo: Glen (Moderator von themelvins.net/forum)

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