Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #101

Müllstierln in Purbach

Wenn etwas weggeschmissen wird, heißt das nicht, daß es weg ist. Erst dann fängt nämlich ein interessanter Verwertungsprozeß an, der auf mehreren Ebenen funktioniert. Diesen Vorgang wollte sich Team Rokko genauer ansehen.    14.11.2018

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Purbach: Das Wahrzeichen des knapp 3.000 Einwohner zählenden Ortes beim Neusiedlersee ist der "Purbacher Türke": ein betrunkener Osmane, der in einem Schornstein steckt. Beim Autofahren schnallt sich hier niemand an, dafür grüßt jeder jeden mit routiniertem Handzeichen knapp überm Lenkrad. Der Künstler Christopher Sturmer (Stirn Prumzer) hatte hier einmal sein Atelier zu räumen und rief den Purbacher Mistplatz-Chef Gerhard Wein - von allen Gerli genannt - an, ob er an der Sammelstelle anzutreffen wäre. Gerlis Antwort am Telefon: "Sog amol, bist du komplett hin in der Marülln?!" Fünf Minuten später stand er Spalier. Sturmer entsorgte alte Bilder und Entwürfe, die einen Eindruck auf Gerli hinterließen. Er rief dem seine Zentrale verlassenden Sturmer nach: "Ans sog i da: In Purbach verkafst du nie a Büldl!" Sturmers Bilder sind damit vielleicht die einzigen, die hier beinhart entsorgt werden und keiner Rettungsaktion unterliegen. Sonst wird selbst jeder Malen-nach-Zahlen-Entwurf aus dem Müll geklaubt.

 

Es ist ein frischer Samstag im Dezember, 9 Uhr in der Früh. Gemeinsam mit Florian, einer anerkannten Person bei den Müllstierlern, gehen wir Richtung Mistplatz. Noch vor der Einfahrt steht eine Gruppe von Frauen aus Ungarn, die die Abfallieferungen im vorhinein abpassen und sich nehmen, was sie brauchen können. Schon aus der Ferne winkt Gerli und lotst uns in sein Container-Büro. "Jetz drah ma amoi des deppate Radio o", sagt er, damit wir ordentlich reden können. An den Wänden hängen zahlreiche Photos aus Gerlis verschiedenen Lebensphasen: "Ich war 35 Jahre Badewaschl und bin geworden beliebtester Bademeister Österreichs. Mit 60 bin ich in die Pension gegangen. Die Zeitung hat geschrieben: 'Bademeister schmeißt das Handtuch', da war ein Potzwirbel, die Musikanten haben gespielt 'Schade, ewig schade', und da haben die Leute gesagt: 'Der Nachfolger vom Herrn Wein tritt ein schweres Erbe an.' "

Gerli zeigt auf ein anderes Foto: "Das ist der richtige Papst, der war in Trausdorf, der tote Pollack. Und hier, das war beim Erntedankfest, da spiel ich immer mit, und bei dem hab ich den Papst gespielt, siehst eh." Zu sehen ist ein Bild, auf dem ein dem Papst äußerst ähnlich aussehender Herr bei einer Parade auf seinem "Papamobil" sitzt und die Bewunderer am Straßenrand weiht – mit einem Klobesen. "Jaja, da bin ich beim Altersheim vorbei, und die Weiber sind alle heraußen gesessen, haben alle getan: 'Poppa, Poppa, Poppa, Poppa!' Und wir: 'Boid seid´s es. Boid homma eich!' " lacht Gerli. Doch zum eigentlichen Thema: "2014 haben wir den 'Goldenen Mistkäfer' gekriegt", sozusagen den Oscar vom burgenländischen Müllverband. Daneben hängt eine Uhr, die aus einer Pfanne gefertigt worden ist: "Die 'Goldene Mistkäfer'-Uhr hat mir der Polizeikommandant Bogner gebracht. Der hat durchgebohrt das Reindl. Zu mir sagen sie hier BauMax. Meine Enkelin hat geschrieben in der Schule: 'Der Opa arbeitet beim BauMax.' Hat meine Tochter zu ihr gesagt: 'Bist jetzt schon ganz narrisch?! Der Opa arbeitet auf der Gemeinde, auf der Sammelstelle.' Hat sie gesagt: 'Nein, die Leute sagen: Fahren wir zum Gerli runter, da ist der BauMax.' Bei mir kriegt man alles."

Das Altstoffsammelzentrum wurde von der Gemeinde ins Leben gerufen, "weil sie vorher alle wild abgeladen und die Umwelt verschmutzt haben. Ich bin von der Gemeinde geringfügig gemeldet, und das wird alles sauber sortiert: Eisen, Papier, da drin haben wir Problemstoffe, schau dir an, wie das alles super ausschaut." Laut Schilderungen aus dem Ort gab es auch davor schon Mistplätze, die aber mehr geschadet als geholfen haben. Einmal einen im Schilfgebiet am See, dann, ebenfalls unweit vom Wasser, eine Verbrennungsanlage, wo alles zusammengekommen ist und man bis heute nichts anbauen darf: Sperrgebiet. Nur bei Gerli wird sortiert: Motoröl, Batterien, Medikamente, Autoreifen, Farbe ... "Wenn ein Container voll ist, ruf ich an, der wird abgeholt und kommt zu großen Verwertungsstellen." Doch dahin kommt nur, was nicht vorher aussortiert wird - entweder von Gerli selbst, oder von einem seiner Stammgäste, und derer gibt es reichlich. Während wir im offenen Büro stehen, sehen wir sie im zuverlässigen Takt hereinfahren. Viele bringen, andere stierln. Gerli begrüßt sie einzeln: "Franz, wie schauma aus? Hau´s Plastik dort eine, wo´s einegheat. Pauli, geh bitte schau, was der alles hat, daß der alles sauber macht. In den Letzten soll er´s eineschmeißen. Bleib bei eam. Grüß Gott, Herr Gmas! - Paßt ois, haut ois hin. Unser Projekt rennt, ois funktioniert."

Doch bevor wir das Büro verlassen, schauen wir noch die Photos an der Wand fertig: "Das bin ich als Polizist, das ist der Bürgermeister, das ist die Sisi, die Fernsehansagerin, die jetzt in Deutschland draußen ist, und das ist der Fleischhacker Willi. Da haben wir gefeiert herunten. Ich hab meinen 50er gehabt, der Willi den 60er. 300 Paarl Würschtel haben wir gehabt. Da ist alles weggekommen. Das war eine Feier, schau her da: Der da ist gestorben, da Schiwampl, und der Brenner hat einen Schlaganfall gehabt. Das war eh bei der Feier. Da sind wir gesessen, der Mann ist dann in die Stauden reingefallen, der wird was gesoffen haben. Hat er geschrieen 'Hüf ma, hüf ma!' "

 

Verwertung der Müllverwertung

 

Gerli selbst hebt auch auf, was geht: 60 Jahre alte Holzski, antike Luster, Radios, Fernseher - und in Purbach munkelt man über seinen Keller, in dem angeblich 1.000 Uhren hängen. Früher hatte er am Mistplatz auch massenweise Bügeleisen und Föhne hängen, erzählt Gerli: "Das ist aber alles auf Oberpullendorf gekommen. Da sitzen die Behinderten und zerlegen die Geräte, um das Gold, das Silber und die Elektronik rauszuholen. Das kommt alles extra und wird fortgeschickt, wer halt ein Rohmaterial braucht." Und was gar nicht mehr geht: "Das kommt auch auf Oberpullendorf, in eine große Halle. Da fährt der mit dem Caterpillar, das wird geschrottn, gefräst, das rennt ca. 3 km auf einer Laufbahn durch."

Doch die Leute werfen leichtfertig weg, meint der Experte: "Wir leben momentan in einer Wegwerfgesellschaft, die Leute wissen gar nicht, was sie wegschmeißen." Bei ihm wird die Wegwerf- zur Aufhebgesellschaft. "Wir haben in Purbach ca. 20 rumänische Frauen, die brauchen Gewand, für Winter und Sommer. Wenn ich was Gutes finde, stelle ich es auf die Seite und zeig es ihnen. Die freuen sich die Haxn aus, das kannst dir nicht vorstellen. Wir waren selber arme Leute, ich weiß, wie das ist. Aber was die Leute wegschmeißen, das ist unverschämt. Von den Essensresten angefangen bis zum Gewand, alles. Neue Schuhe! Die haben gekostet 75 Euro - waren noch eingepackt in der Schachtel, ganz neu. Hab ich das der rumänischen Frau geschenkt, hat die gesagt: 'Gerhard, heute Weihnachten.' Das war im Mai. Die kann sich nie um 75 Euro Schuhe kaufen. Ich selbst bin mir auch nicht zu schade: Wenn ein schönes Gewand ist, nehm ich mir das selber. Jetzt war eine Frau da, ihr Mann hat abgenommen, 30, 35 Kilo. Der hat 50 Leiberl gehabt, XXL. Ihm war das dann zu groß, ich hab´s genommen und alle verschenkt."

Seine Großzügigkeit ist keine, wie sie aus diversen populistischen Richtungen geheuchelt wird, sondern eine grundehrliche. Gerli zeigt Richtung Ausgang seines Reiches: "Draußen, da stehen unsere ungarischen Nachbarn, die sammeln Sperrmüll, Gewand, Schuhe ... Wir sagen zu ihnen 'die Zigeuner', aber das sind genauso Menschen wie wir. Hereinfahren dürfen sie nicht, jetzt stehen sie beim Türl draußen. Die Gemeinde kann nix machen, die Polizei jagt sie ab und zu fort, aber die kriegen auch was von mir: Wenn ich ein Gewand oder so hab, geb ich ihnen das - die freuen sich natürlich auch. Früher haben sie genommen Eisen, so was geben wir ihnen nimmermehr, weil fürs Eisen kriegt die Gemeinde Geld. Aber lästig sind sie überhaupt nicht, die tun keinem Menschen was." Gerli ist ein gutes Beispiel für das (unbewußte) Ignorieren einer der gegenwärtigen Political Correctness angepaßten Sprachschulung, die von den Orthodoxen, die selbst oft die größten Faschos sind, eingefordert wird, der aber dann viel mehr wirkliche Taten vollbringt als ganze verbissene Organisationen.

Und auch, wenn Leute der von ihm angekreideten Wegwerfkultur blind vertrauen, sagt er nicht ätsch-bätsch, sondern hilft ihnen: "Eine Frau ist gekommen, die hat ein Münzenbiachl weggeschmissen: Da waren die 100er, die 25er, ein 500er, alles in Schilling drinnen. Na, das hab ich ihnen zurückgegeben. Die wissen gar nicht, was sie tun." Er hingegen nützt die Ressourcen: "Ich heize jetzt schon sechs Jahre mit dem Holz, was die Leute wegschmeißen. Die bringen Nußbäume, Kirschbäume, alles." Aber auch Giftstoffe sind dabei, mit denen man den richtigen Umgang kennen sollte, so Gerli: "Du mußt Prüfungen und Schulungen machen. Wenn jemand Quecksilber bringt, da mußt du schon verdammt aufpassen. Die Leute stierln herum, jeder macht was auf. Wenn sie was bringen würden, eine Bombe oder was, wir würden das reinhauen, daß es einen Pumperer macht. Dann würden wir rennen, wenn wir noch rennen können." Ob schon jemand Waffen gebracht hätte? "Mit einer Puffn ist noch niemand gekommen, aber eine Geschichte kenn ich: Da hat einer Elektrogeräte weggeschmissen, vom Bundesheer. Wir haben nicht gewußt, was das ist, wie ein Geigerzähler, und wir haben uns das umgehängt", lacht er. "Wir haben herumgeblödelt, bis einer daherkommt und sagt: 'Na heast, des kann ja gfährlich a sein!' "

Passiert ist noch nichts am Müllplatz, aber selbstverständlich rundherum. Gerli bekommt viel mit und schaltet sich ein, wenn´s paßt: "Wenn irgendwer in Purbach stirbt, sag ich schon: Hat die Mutter eine Uhr gehabt?" Auf dem Hügel vorne, beim Eingang, steht ein Kreuz. Gerli zeigt darauf und sagt: "Das haben sie runtergebracht vom Friedhof, das haben sie weggeschmissen, jetzt hab ich es da raufgestellt. Wenn ich sterbe, sollen sie mich darunterlegen", scherzt er und fährt fort: "Das war ein junger Bursch, der hat sich erschossen. Und wie sie den Grabstein bekommen haben, haben sie das Kreuz heruntergebracht. Das war ein ganz ein normaler Mensch, 20 Jahre, aber ist mit dem Leben nicht zurecht gekommen."

 

Tausend Ticks

 

Er zeigt auf eine Länge von montierten Fahrrädern und sagt: "Da ist gehängt das ganze Geschirr: Reindl, Schissl, Scherbal. Wenn der Südwind gegangen ist, hat das pumpert und gscheppert, jetzt haben die nicht schlafen können oben. Da hast du geglaubt, ein Reindlbinder ist da: bumm, klesch, bumm, klesch. Dann hab ich gehört, die Nachbarn regen sich schon auf, die schreien schon Feuer. Also hab ich das weggeben müssen, na freilich hat mir das leid getan. Radl haben sie mir gebracht, hab ich mir gedacht, na probierst einmal Radl aufhängen: 1, 2, 3, 4, na, über 50 Radl hab ich gehabt. Hergegeben hab ich welche, geschenkt hab ich sie den rumänischen Frauen, der Florian hat ein paar genommen. Der Florian hat dann alles mit heimgenommen, jetzt schreien seine Nachbarn schon Feuer. Der hat sich alles hingehängt - warst du schon oben, wie´s ausschaut bei dem? Wenn du das siehst, das ist ein Wahnsinn, wie in Rumänien. Sowas hast du noch nicht gesehen. Hinten hat er eine Sau, da schaut´s aus, das kannst du dir nicht vorstellen. So hoch in Gatsch, dann hat er einen Hochstand, die Nachbarn werden schon völlig narrisch. Jetzt sind sie schon beim Bürgermeister gewesen. Schad um das Haus! Das mußt du dir anschauen", lacht Gerli. "Der Florian wohnt jetzt im Haus von seiner Freundin, von der Maria. Da räumt er auch schon so ein, sagt sie. Ihr taugt es mittlerweile auch schon, und sie kommt her. Den kleinen Bub tun sie auch schon anlernen."

Florian ist in Sichtweite, und Gerli ruft ihn herbei: "Das, das kann die Taliban brauchen, oder?" und zeigt auf einen alten Tisch. "Zu Florian und seinen Freunden sag ich immer: 'Die Taliban san scho wieder do!' Weil´s so ausschauen, wild, mit dem Bart. Is nix Schlecht´s gmoant. Sie sind sehr hilfsbereit, der Florian ist ein Himmelvater, der zaht alles heim. Am liebsten täte er ja hier wohnen." Florian nickt und sagt ruhig: "Na, sicher." Gerli setzt fort: "Warum? Das ist halt aso. Wenn ich mehr Platz hätte zu Hause, täte ich auch mehr mitnehmen. Da Florian ist so ein Stierler, die kommen her und schauen, was sie brauchen. Das macht mir nix, das paßt, da kommen sechs, siebene. Der eine zwickt die Kabeln ab, der eine sammelt Alu, der andere sammelt Wasserleitungshähne, und der Florian will alles Zeug haben. Der soll ein Dorfmuseum aufmachen, das wär der richtige Museumswärter."

Ich spreche Gerli auf seinen mythenumwobenen Keller an, von dem viele schon gehört haben, wo aber noch niemand war. Daraufhin nimmt er sein Handy, um Photos als Beweis herzuzeigen: "Geh, i bring meine Photos ned zamm. I brings heid ned hin." Nach längerem Herumprobieren meint er: "Aber ihr könnt rauffahren, ihr könnt euch das anschauen. Ich ruf meine Frau an, der Hund tut euch nix, der mocht nur an Wirbel, der gfallt da glei. Sowas hast noch nicht gesehen. Über tausend Uhren, im ganzen Keller hörst du nur: tick-tick-tick, tick-tick-tick. Handy hab ich da unten 1.160. Die geb ich jetzt ab fürs Licht ins Dunkel. Und der ganze Keller ist angehängt mit meinen Photos. Das schauts euch an, und wenn ihr einen Durscht habt, trinkts was. Der ganze Keller voll Wein, Schnaps ... Und alles, was du da siehst, ist von hier herunten." Er nickt: "Nur den Hund laßt´s ma ned auße. Wann dem Hund was passiert, darf i ned heimkommen." Schon kommen die nächsten Fuhren: "Bruada, servas, wie schau ma aus, paßt ois?! Stöh na do eine, Fredi."

Wir fahren mit Florians vollgeräumten Zweitürer zur genannten Adresse, die eigentlich in Gehweite wäre, und stehen vor einem schmucken Haus mit Weihnachtsdekoration, die, so kann man annehmen, auch vom Mistplatz stammt. Wir läuten an, werden zuerst vom Hund, dann von Gerlis Frau begrüßt. Sie bringt uns in den Keller und schüttelt den Kopf: "So viel Zeit verbringt er im Keller, sagt, er muß umhängen. Die lauten Uhren hab ich abgestellt. Das ist ja ned normal, da schreckt´s dich. Wenn er eine Kuckucksuhr hätte, hätte ich ihm schon den Kragen abgedreht. Ich sammel ja nicht mit. Einer in der Familie reicht." Der Raum ist nicht besonders groß, vielleicht 25 m², aber um ihn zu erfassen, braucht man dennoch Zeit: kein Quadratzentimeter bleibt ungenützt. Neben Küchenuhren, Taschenuhren, Stehuhren, Armbanduhren, Pendeluhren, Wecker, Uhren in Schatullen, in allen Größen und Formaten, sieht man Schwimmkursabzeichen, Fischereischeine, Gemälde, Feitln, Medaillen, Gerli als Rauchfangkehrer, als Bademeister, eine Geburtstageinladung "zum doppelten 30er", Hufeisen, Jagdhörner, Schlüssel, Nudelwalker, Pfeffermühlen. Ob er bald eine Wand dazubauen wird? Die Frau seufzt: "Es ist ihm alles zuzutrauen."

Wir packen uns zusammen mit Ziel Florians "rumänisches" Haus.

 

Auf nach Rumänien

 

Wieder sitzen wir im kleinkalibrigen Vehikel und fahren auf einen Hügel etwas außerhalb vom Ort. Florian dreht sich eine Zigarette und kutschiert uns, bis wir am Gipfel stehenbleiben. Alle Häuser ringsherum sehen aus, als wären sie in den letzten paar Jahren von Wiener Zahnärzten gebaut worden - nur nicht das von Florian. Er ist Sozialarbeiter, nennt sich "Mistplatzspezialist" und erzählt, daß er das Haus vor zehn Jahren in desaströsem Zustand gekauft und anschließend renoviert hat. Das einzige, was damals noch in passablem Zustand war, war der Schweinestall, und so rennen heute noch eine füllige Sau, ein paar Hendln und Truthähne durch den Garten, wo sonst eine Weinpresse, eine alte Munitionskiste, ein Muschelstein aus dem Schloß Esterhazy, ein Gerät zum Flaschenkorken, ein Gartenzwerg, Orgelpfeifen, Eislaufschuhe ... stehen. Es wirkt chaotisch und weckt den Eindruck, daß Gerli alles systematisiert, bei Florian hingegen die Systemlosigkeit regiert. Auch, was man nicht braucht, wird nicht weggeschmissen. Er zeigt auf einen Hochstand mitten im Garten, auf dem eine lebensgroße Keramikfigur eines schwarzen Saxophonisten steht "Der Hochstand ist von den Mörbischer Seefestspielen, da hat meine Freundin gearbeitet. Da hat schon der Serafin oben gesungen."

In diesem Haus leben heute vier Flüchtlinge: zwei aus dem Iran, zwei aus dem Irak. Florian hat seine Behausung freiwillig zur Verfügung gestellt, weil seine Freundin hier ohnehin nicht einziehen wollte. Bei ihr sieht es ganz normal aus, - noch - ohne Schwein und Hochstand im Garten. Gefüttert wird das Tier von den Flüchtlingen. Wie ihr Verhältnis zum Schwein ist? "Das haut schon hin, die nehmen das locker", mein Florian lakonisch. Und wie das Verhältnis zu den Nachbarn ist, deren Häuser nicht nur sauber, sondern rein aussehen? "Reden wir im Keller drüber." Später erzählt er, daß sie ihn "die zweite Müllabfuhr" nennen, und da sind wir schon am Weg zu Paul, seinem einzigen Verbündeten am Hügel, so Florian: "Wir sind hier die zwei Bergdeppen."

Paul ist eine Minute entfernt, bei ihm sieht es ähnlich wild aus. Nach dem Anläuten öffnet der "Langzotterte" ein Fenster und grinst euphorisch heraus: "Griaß eich!" Der gelernte Schlosser kocht gerade, aber wir dürfen ruhig in seinen Garten: Holdzstadln, improvisierte Grillauben, Schreibtischsesseln, Barhocker, Waschmaschinen, Siebe, Liegen, Kukuruz, Gänse, Hühner, ein Tischtennistisch in fragwürdigem Zustand und Käfige in allen Größen - einer davon für seinen Buben als Spielzeug. Paul kommt nach ein paar Minuten gutgelaunt mit seinem Junior aus dem Haus. Die Hendlarmee wird freigelassen, und sein Bub spielt mit ihnen, füttert sie mit Maiskörnern, während sich Paul eine Zigarette bastelt und grinst: "Jetzt kemman´s, de Lauser!" Der Sprößling zermatscht einen Kürbis, "damit sie gscheide Eier legen", wie es heißt. "Gestern hab ich eine Ente mit 1,10 kg geschlachtet, die ist grad im Rohr. Zu viele darf man nicht haben, auch nicht bei den Hendln. Sie fangen zu streiten an, wenn zu viele Hähne auf zu wenig Hendln sind, das geht sich nicht aus."

Nach einer kleinen Inspektion geht es zur nächsten Station: zu jenem Haus, in dem Florian mit seiner Freundin Maria und dem gemeinsamen Kind wohnt. Oben sieht es tadellos aus - hier hat die Frau das Sagen -, aber im Keller darf sich der "Taliban" ausleben: Krimskrams, Nachtkastln, Gläser, elektrische Kühlboxen, Bücher, ein Globus, ein Bumerang, Glocken, Photoalben fremder Familien und und und. "Ich weiß mehr über die Purbacher als irgendwer sonst. Stammbücher, Notizhefte, alles wird weggeschmissen", erzählt Florian. An der Wand hängt "das traurigste Schülerphoto, das ich je gesehen habe, aber gehen wir zur Heiligengalerie", sagt er und wechselt in den nächsten Raum, der gefüllt ist mit Bildern von Schutzengeln. Die Sammlung "wächst wöchentlich", sagt er. "Ich hab meinem Kind noch nie Spielzeug gekauft, vor allem nicht solches Plastikklumpad", aber es liegt, hängt und steht hier massenweise herum, genug für die nächsten 100 Jahre. Danach werden Theaterkostüme der absurden Art vorgeführt, gefüllte Nähkästchen und Schustertaschen präsentiert, ein Profischlauchboot begeistert aus der Stellage geräumt. Ob er das schon einmal ausprobiert hat? "Nein, aber ums Wegschmeißen wär mir schade. Entweder ich verwende es irgendwann selber, gebe es weiter, oder es steht halt hier." Mit wenig Geld kommt man auch so zu Luxus, den man sich sonst vielleicht gar nicht kaufen möchte. Die schönsten Treffer sind Überraschungstreffer, die nicht von langer Hand geplant werden.

An diesem Tag streunen noch mehrere Zauberer durch das obere und das untere Purbach samt Kellergasse, die es, ohne sich überzustrapazieren, zu zwei bis drei Häusern gebracht haben oder in aufgelassenen Hotels wohnen, ohne Miete zu zahlen. Das geht nur an wenigen Flecken, und das Burgenland gehört dazu. In einer Zeit, da 90 Prozent pleite sind, weil die anderen 10 Prozent für 2 Cent sogar ihren Nachbarn töten würden, vielleicht gar kein so verkehrter Ansatz.

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #18


Text: Rokko

Fotos: Christopher Sturmer

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