Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #69

Von Los Strangeles nach Disneyland

"Ich fühle mich oft, als wäre ich meiner Zeit 20 Jahre voraus gewesen ..." sagt der kalifornische Underground-Regisseur Larry Wessel. Rokko sprach mit ihm über multimediale Obskuritäten, "Anti-Performance Art" und Liebe auf den ersten Klick.    20.05.2014

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Larry Wessel ist ein Underground-Filmemacher aus Kalifornien, der seit jeher auf randseitigen Klippen spazierengeht. Vor seine Linse holt er Gestalten wie Boyd Rice, Adam Parfrey, The Mentors, Jesus-Freaks, Toreros und Transvestiten. Diesmal stellt Team Rokko ihn ins Rampenlicht: Lesen Sie hier den ersten Teil.

 

 

Los Strangeles

 

Nach dem fragilen Über-Macho-Topos drehte Wessel einen Film über ganz andere sexuelle Identitäten: "Sugar & Spice" (1995) - in den Hauptrollen: Transvestiten, Drag-Queens und Transsexuelle. Zugang fand er über die in San Francisco ansässige Transgender-Organisation "The Lost Girls". Über Glenn Meadmore lernte er dann The Goddess Bunny kennen. eine(n) an Polio erkrankte(n), verkrüppelte(n) Performer bzw. Performerin - entscheiden Sie selbst. Wenn Bunny Step tanzt, stockt einem der Atem.

Darauf folgte der Film "Carney Talk". Carney Talk war eine Slang-Version Ende der 1950er, Anfang der 1960er, eine Geheimsprache für Gangster bzw. die damaligen "hip people". Die haben nichts mit jenen ironischen Schnauzbartträgern von heute zu tun, sondern eher mit einer Definition, die der Entourage der Beat Generation nahekommt. Ich weiß nicht mehr genau, glaube aber, daß es Burroughs war, der die (damaligen) Hipster als jene Menschen definierte, die in eine fremde Stadt kommen und innerhalb von zehn Minuten Drogen aufstellen können.

In "Carney Talk" spricht der alte Falott Robert Williams genau über jene Zeit - samt Sideshow-Freaks, Benzedrin, wilden Streichen und seltsamen Einlagen mit abgeranzten Huren. Der Film besteht nur aus einer Kameraeinstellung, frontal auf Williams´ Gesicht. Diese unbewegliche Drauflospolitik wurde von dem evangelischen Late-Night-Fernsehfüller Gene Scott inspiriert. Wessel erinnert sich, daß der einfach vom Bildschirm starrte, die Kamera ganz nah an sein Gesicht heranließ, sodaß man oft nur noch einen Ausschnitt daraus sah - und dieses Close-up aus Augen und Mund verlangte Geld von den Fernsehzuschauern. Daraufhin wurde noch die Telefonnummer gepanscht, und diese Augen, das Gesicht Gottes, starrten einen mitunter 20 Minuten lang an, ohne ein Wort zu sagen. Ohne Vorwarnung brüllte der Fernsehprediger dann plötzlich mit voller Kraft los: "Call me, dammit!!" Er weigerte sich weiterzubeten, bis genug Leute angerufen und einen bestimmten Betrag für ihn zusammengebracht hatten - so lange wurde man vom Fernsehbildschirm zornig angestarrt und gemaßregelt.

Solcher Wahnsinn gehört zu Kalifornien wie das Auto zu Los Angeles, jener Stadt, in der Wesselmania gedeihen kann: Abermillionen Menschen auf einem Fleck, und doch jeder für sich allein; die Schönsten und Reichsten, daneben Skid Row, das Eldorado für tausende Obdachlose in Downtown L.A., die wie Fliegen um einen Scheißhaufen streiten. Gegensätze, Exzentriker, Gewalt, Versprechungen; Sucht, Spiel, Oberfläche, Brüche; man fährt zwei Stunden mit einem Auto auf dem mehrspurigen City-Highway in eine Richtung - und ist danach noch immer in der Stadt bzw. wird nie in einer Stadt ankommen, sondern sie immer nur jagen. Vielleicht gibt es Los Angeles gar nicht; vielleicht ist diese Megalopolis nur eine Phantasie, angeheizt durch Mythen, Zeichen und Filme.

Um diese Metapher der Widersprüche abzubilden, hat Wessel "Ultramegalopolis” gedreht und dazu in sieben Jahren 250 Stunden Filmmaterial gesammelt. Übrig davon blieben die Jesus-Freaks verschiedenster Couleur, Straßenmusikanten, Boxer, lebendige Schaufensterpuppen - ein buntes Kaleidoskop des Wahnsinns von L.A. Mitte der 1990er mögen diese Alltagsszenen noch eine größere Wirkung gehabt haben, aber heute, in Zeiten von YouTube und der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Gewalt, Sex, Schock und Tod ... hat sich da Wessels Arbeitsweise geändert? "Absolut. Ich liebe das Internet, speziell YouTube. Ich hab´ in den späten 1980ern angefangen, das Material zu filmen - da gab es kein YouTube und kein Reality-TV. Heute ist extremes Material überall verfügbar, im Internet genauso wie im Fernsehen. Ich fühle mich oft, als wäre ich meiner Zeit 20 Jahre voraus gewesen ..."

 

 

Tora+Larry 4ever!

 

Larry Wessel macht nicht nur Filme, sondern fertigt auch bunte, obszöne, post-kubistische Collagen an, die von zahlreichen Menschen wie Adam Parfrey, den LaVeys und Johanna Went gesammelt werden. Damit war er der Unpop-Art (RIP) verbunden, in der auch Charaktere wie Shaun Partridge und seine Schwester Giddle Partridge, Shauns Freundin Kimberly Partridge (alle vom berühmt berüchtigten Partridge Family Temple), der obskure Archivist John Aes-Nihil, der frühere Schlagzeuger von den Germs, Don Bolles, Charles Krafft, Nick Bougas, Nikolas Schreck, Jim Goad und Boyd Rice aktiv waren. Wessel hat mit seinen graphischen Arbeiten bereits zahlreiche Ausstellungsräume gefüllt, aber auch Seiten im "Hustler", Jim Goads "Answer Me!", Martin McIntoshs Buch "Taboo: The Art Of Tiki” - und er hat das Cover von Adam Parfreys "Cult Rapture" sowie Gene Gregorits "Midnight Mavericks" gestaltet. In letzterem ist außerdem ein Interview mit dem Herrn zu lesen.

Als "Father Larry" exerzierte Wessel ferner seine "Anti-Performance Art", bei der er im Pfarrer-Outfit (simulierte) sexuelle und gewalttätige Handlungen von einem bombastischen Soundtrack begleiten ließ - gespickt mit abseitigem Humor, den mit Sicherheit nicht jeder zu verstehen imstande bzw. willens ist. Dazu sollte kurz erwähnt werden, daß Wessel auch Priester in der Church of Satan ist.

Die Trompete hat Wessel zwar in die Abstellkammer gestellt, doch seine musikalischen Interessen leben weiter und haben ihn zu seinem Film "Hollywood Head Bash" geführt: 1991 gedrehtes, aber erst 2008 veröffentlichtes Material über The Mentors. Er nimmt keinen Abstand ein, sondern ist mit einer wackligen Handkamera und verschwommenen Bildern mitten im Geschehen. "Eldon Hoke war ein Freund von mir, einer der lustigsten Kerle, die ich je getroffen habe. 'El Duce' war ein Pseudonym von ihm, aber er hatte noch ein zweites, weniger bekanntes." Wessel hing mit Hoke, dem Mastermind der Mentors, im Ivar Theater in Hollywood herum - dem grindigsten Stripclub, den die beiden kennenlernen durften.

Wessel machte Fotos von den gescheiterten Existenzen in zerschlissenen Strapsen, den blauen Flecken in High-Heels, den zahnlosen, zutätowierten Trägern zerstochener Arme, die versuchten, ihre Narben zu überschminken und in dem nach Pine Sol stinkenden Etablissement zu funktionieren. Die paar Sitze, die besetzt waren, wurden von alten Asiaten in Regenmänteln besudelt, die sich an ihren Drinks festhielten. "Eldon war dort Master of Ceremonies. Im The Ivar trug er den Namen 'Mr. Wonderful'. Mr. Wonderful und ich rauchten Joints in dem kleinen Verschlag, in dem sein Mikrophon, ein Kassettenrekorder und der klapprige 16-mm-Filmprojektor standen, der zwischen den Stripshows alte Pornofilme zeigte. Wenn eine Stripperin bereit für die Bühne war, drehte Mr. Wonderful ihre Musik auf und kündigte sie lauthals über sein Mikro an: Gentlemen, it´s time to go to the men´s room and have a piss or maybe you would prefer to go out into the lobby and have a cigarette because the next lady is real ugly. She is so ugly that she is what is known as a two bagger. What is a two bagger, you ask? When you fuck her you want to use two bags. One to put over her head and one to put over your head in case her bag breaks! And now without further ado, here is ... thee ... extreme-leeeee ... ug-leeeeee ... LINDAAAAHHHHH!!’"

 

Larry Wessel sollte allerdings nicht nur mit häßlichen Frauen zu tun haben. Mittlerweile ist er verheiratet mit seiner - entschuldigt den Ausdruck, aber er würde sie und ihn nur freuen - Sexbombe Tora Wessel, die 1986 in Stockholm zur Welt kam und als Photographin tätig ist. Die beiden himmeln einander in einem Maße an, daß es schon beinahe gruselich ist. "Wir haben uns auf MySpace kennengelernt und sofort erkannt, daß wir Seelenverwandte sind. Wir haben gechattet, telefoniert und uns jeden Tag und jede Nacht Liebesbriefe geschrieben. Sechs Monate später war ich schon auf dem Weg nach Schweden, um mit Tora ihren 20. Geburtstag in Liseberg zu feiern, einem bezaubernden Vergnügungspark gleich außerhalb von Göteborg. In meiner Anzugtasche hatte ich einen Verlobungsring, zwei Tickets nach Los Angeles und zwei Jahreskarten für Disneyland."

Ein paar Wochen gondelten die beiden Täubchen durch Schweden, bis Tora "eines Nachts in ihrer Küche über Zahnschmerzen klagte. Ich sagte ihr, daß ich eine sehr starke Heilmethode kennen würde und bat sie, die Augen zu schließen und mir ihre linke Hand zu geben. Ich ging leise auf die Knie, habe sanft an der weichen Stelle zwischen kleinem und Mittelfinger gerieben und ihr vorsichtig den Verlobungsring auf den Ringfinger gesteckt." Seine Frage wurde gestellt, ihre Antwort war ein klares "Ja!" - und zusammen flogen sie nach LA. "Dort schmissen wir eine wilde Verlobungsfeier und luden all unsere Freunde ein. Bald darauf heirateten wir in Las Vegas, im 'Garden of Love', und verbrachten das nächste Jahr damit, unsere Flitterwochen zu feiern und fast jeden Tag ins Disneyland zu gehen! Wir haben gerade unseren fünften Hochzeitstag gefeiert, und unsere Liebe füreinander wächst und wächst jeden Tag."

 

 

Zur Fortsetzung ...

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #11

(erschienen im Juli 2012)


Text & Interview: Rokko

Fotos: © Wesselmania

Links:

Watchlist


Alle Filme von Larry Wessel können bestellt werden unter www.wesselmania.net

 

"Taurobolium" (1994): Stierkämpfe in Tijuana

"Sugar & Spice" (1995): Transvestiten, Drag-Queens und Transsexuelle

"Carney Talk" (1995): Robert Williams erzählt über Sideshow-Freaks, Benzedrin und seltsame Einlagen mit abgeranzten Huren.

"Ultramegalopolis" (1995): Zweieinhalbstunden-Marathon über den krankhaft geilen Moloch Los Angeles

"Tattoo Deluxe” (1995): Tatü Tata Tattoo!

"Sex, Death & The Hollywood Mystique” (1999): James Dean, Charles Manson, Horrorwood, Karloffornia

"Song Demo for a Hellen Keller World" (1999): über die Erektion von Blinden

"Hollywood Head Bash" (2008): 1991 gedrehtes, aber erst 2008 veröffentlichtes Material über The Mentors!

"Iconoclast" (2011): über Boyd Rice, Scherzkeks und Finstermann vor dem Herrn

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