Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #5/ Pt. 1

Negation und Konterrevolution

Endlich eine neue Wortmeldung von Rokko und seinen Brüdern: Diesmal führt uns Roland Steiner in die Geheimnisse der Situationistischen Internationale ein.
Davon haben Sie noch nie gehört? Das läßt sich leicht ändern ...    24.09.2008

Stunde 0

 

Cosio d´Arroscia, 28. Juli 1957: Ein Däne, ein Brite, drei Italiener und ein französisches Ehepaar treffen im Haus der Familie Simondo ein. Das ligurische Dorf, ein steinernes Labyrinth, und die importierten, in konzentrierter Zerstreuung geborenen Themen werden erkundet, der Text dazu lautet: Rapport für die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. Man einigt sich auf schrankenlose Beschränkung und gibt ihr einen politischen Namen: Situationistische Internationale (S. I.). Asger Jorn, Mitbegründer der Künstlergruppe CoBrA (Copenhague-Bruxelles-Amsterdam, 1948-51) und des Mouvement pour un Bauhaus Imaginiste (1954-56), Ralph Rumney, Alleinvertreter des Comité Psychogéographique de Londres, Giuseppe Pinot-Gallizio, mit Gastgeber Piero Simondo Begründer des Laboratorio di esperienze immaginiste, der Musiker Walter Olmo, Elena Verrone, sowie Michéle Bernstein und Guy Debord, Mitbegründer der Internationale Lettriste (1952-57), heben an.

 

Stunde 1

 

Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen durchzusetzen.

 

Der so das erste Kapitel "Revolution und Konterrevolution in der modernen Kultur" einleitende, als kompakte Programmatik sich verstehende analytische Rapport kritisiert herrschende Ideologien, das heißt Kapitalismus im Westen wie Stalinismus im Osten, die Arbeiterführungen beider Blöcke, spektakulären Warenfetischismus, Konfusion und Erosion jeder Kohärenz, die nach zwei Weltkriegen wiederhergestellte Trennung von Politik und avantgardistischer Kultur bzw. Vereinahmung subversiver oder negativer Tendenzen und weiters aktuellere Kunstströmungen: den Technikoptimismus des im Faschismus zerriebenen Futurismus, den auf vollkommener Negation fußenden Dadaismus (in dessen Aspekt, "solange die sozialen Verhältnisse nicht abgeschafft worden sind, die die Wiederholung von verfaulten Elementen des Überbaus erzwingen", man sich jedoch wiederfindet), die dem Surrealismus zugrundeliegende "Idee des unendlichen Reichtums der unbewußten Phantasie" und dessen Kult um Psychoanalyse, die "Philosophie auf Pump" der Existentialisten, die "lächerlichen Experimente" des im Rahmen der Kunst verharrenden Lettrismus, von dem die linken Internationalen sich abgespaltet hatten, die funktionalistische Architektur, das realsozialistische Theater (außer Brecht) und die amerikanische TV-Verdummung.

Gefordert werden "eine organisierte kollektive Arbeit (...), die eine einheitliche Anwendung aller Mittel zur Umwälzung des alltäglichen Lebens anstrebt", die moderne Kultur in den Besitz zu bringen, um sie zu negieren, den Bruch mit Gewohnheiten; statt derer seien Verhaltensexperimente und neue Stimmungen zu suchen und dabei zu fokussieren auf die Konstruktion von Situationen, einen unitären Urbanismus (stimmungsdefinierte Viertel, Klänge und mehr), die kreative Plünderung respektive Zweckentfremdung vergangener (Gemälde, Stadtpläne) wie aktueller (Comics) Kreationen und das verwirrensollende ziel- und planlose Umherschweifen.

 

Der 1952 mit seinem unter anderem Gesetzestexte zitierenden, von visuell abwechselnd schwarzer und weißer Leere begleitetem Film "Hurlements en faveur de Sade" für einen geplanten Skandal gesorgt habende Rapportierende Guy Debord hat bereits die Lettristische Internationale, enfants perdus der 50er Jahre, aus dem Impetus des Anti-Künstlers gegründet: "Leute, die nur negativ definiert werden konnten, weil sie keinen Beruf hatten, keinem Studium nachgingen und keine Kunst ausübten", "wenig empfehlenswerte Personen aus Paris, [die] nach der Aufhebung von Kunst zu suchen" begannen und deren Umherschweifen sich noch auf das Pariser Viertel St. Germains-des-Prés bzw. das Innenleben des Cafe Moineau beschränkte, wo sie tranken ("Ich habe zwar viel weniger geschrieben als die meisten, die schreiben, aber viel mehr getrunken als die meisten, die trinken", wird Debord später in seinem "Panegyrikus" sein Tun resümieren), hungerten, Schach spielten, bettelten und Pläne wälzten, minderjährige Mädchen aus dem Gefängnis zu befreien oder den Eifelturm zu sprengen.

Yves Klein sowie die Wiener Maler Fuchs und Hundertwasser interessierten sich für sie und wurden abgewiesen, von letzterem hieß es später: "Wir müssen offen erklären, daß Fritz Hundertwasser nicht wahnsinnig ist." Der damals 26jährige Debord, ein leidenschaftlicher Theoretiker, Experimentalfilmer, Mauer- ("Ne travaillez jamais", 1953) und Leinwandpropagandist ("Abolition du travail aliene", 1963), vor vier Jahren einen Gas-Suizidversuch überlebt habend und "Doktor in nichts", gibt die Zielrichtungen der neuen, jetzt Situationistischen Internationale vor: "Die Probleme des kulturellen Schaffens können nur noch in Verbindung mit einem neuen Vorstoß der Weltrevolution gelöst werden." Und, so endet der Rapport: "Die Leidenschaften sind oft genug interpretiert worden - es kommt jetzt darauf an, neue zu finden."

 

In diesem vom Lettristen Gilles Ivain (alias Ivan Chtcheglov, späteres S.-I.- Mitglied "aus der Ferne", weil in psychiatrischer Klinik festsitzend, und Stichwortgeber für den Madchester Rave-Club Hacienda, an dessen Stelle heute - no na - Luxusappartements) erarbeiteten Formular für einen neuen Urbanismus und andere gemeinsam erstellte Studien implizierenden Text werden die zentralen Begriffe dessen eingeführt, was später wahlweise als Avantgarde der Kunstavantgarde, Inspirator, Lunte oder Öl der französischen 68er-Bewegung, Geheimbund oder gar Theoriefundament des europäischen Linksterrorismus angesehen worden ist.

 

Stunde 2

 

Subversion bei Negation gegen Rekuperation: Vereinnahmung abzuwehren bedeutete nun, zumindest binnenmoralisch, die finanzielle Basis durch Kunstverkäufe der Maler nach außen geringzuhalten. Mögliche Gemeinschaftssaustellungen der S. I. werden (zumeist von Debord) boykottiert, die Unterwanderung frischer Avantgarden aber goutiert. Verfügte man über keine Zentrale, galt es anderes zu finden, ein Medium - nach den lettristisch-präsituationistischen Zeitschriften "Potlach" und "Les lèvres nues" (Brüssel, 1954-58). Zuvor findet die zweite Konferenz der S. I. Ende Januar 1958 in Paris statt, wo der Ausschluß der Gründungsmitglieder Olmo, Verrone, Simondo ("gewisse opportunistische Elemente [sind] zur offenen Opposition gezwungen und sofort beseitigt worden") und Rumney (der P. Guggenheim ehelichte) aktenkundig wird.

Im Juni 1958 erscheint die erste Ausgabe der in metallischem Einband gehaltenen "Internationale Situationniste", herausgeben von Debord und wechselnder Redaktion. Geplant und in Folge der dritten Konferenz 1959 in München - wo die deutsche Künstlergruppe SPUR (aus der sich später in der Person Dieter Kunzelmanns die Kommune I, daraus die Subversive Aktion bilden sollte) aufgenommen wird - umgesetzt, wird die S. I. in Sektionen unterteilt, durch die (Nordwestpassage der Revolution) im Laufe der Jahre 70 Personen aus Skandinavien, Benelux, Frankreich, Italien, Deutschland, dem Maghreb und den USA schweifen werden.

Auch abseits der Treffen werden internationale Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Kultur via Zeitschriften, die eigenständig oder übersetzt in Frankreich, Deutschland, dem Benelux, Skandinavien, England und Italien zirkulieren, analysiert und inklusive Interna und Bekanntmachungen aktueller Mitgliederausschlüsse verbreitet, Manifeste und Flugblätter verteilt, Protestaktionen, auch der Gebote gegenüber individualistischer, das heißt bürgerlicher Anerkennung zuwiderlaufende Ausstellungen geplant und gleichzeitig nach Möglichkeiten, zumindest Direktiven der Aufhebung der Kunst gesucht, auf deren Terrains man bereits für Verwirrung gesorgt hat. Die Zusendung der "International Situationniste" an renommierte Redaktionen wird forciert, dann gekappt, indes die Internationale Richtung USA, Japan und Algerien intensiviert.

Die 4. Konferenz tagt in London, an einem geheimgehaltenen Ort. Attila Kotányi, ernannter Leiter des Brüsseler Büros für den unitären Urbanismus, nachdem Constant, Ex-Maler und Architekt, ausgeschlossen worden ist, stellt die Frage, wie weit eine politische S. I. gehen will - "ein Gesamtprogramm der Befreiung" -, und Asger Jorn ergänzt: "Wir sind die Revolution ... um mit den anderen Organisationen zu handeln, die neben uns nach demselben Weg suchen." Ein Zentralrat wird installiert, die Kulturvereinnahmung seitens der UNESCO angegriffen, die Verteidigung des verhafteten englischen S.-I. -Mitglieds Alexander Trocchi verlesen und ein Antrag der deutschen Sektion pro Anti-Psychiatrie gebilligt.

Die 5. Konferenz findet in Göteborg statt, neun Länder (Skandinavien, Benelux, Frankreich und Deutschland) sind vertreten, zwei Resultate wirken weiter: 1) sind alle Kunstwerke der Situationisten ab sofort als anti-situationistisch zu bezeichnen (auch, da immer mehr andere Künstler sich des "Situationismus" rühmen), und 2) gilt es "das Ende einer Welt zu beschleunigen" (die sie nicht anerkennen). Die Konferenz geht (wie immer) als Fete inklusive ausschweifendem Umherschweifen zu Ende.

Zuvor, im selben Jahr 1961, verläßt auch das letzte Gründungsmitglied Asger Jorn (der unter dem Pseudonym George Keller noch verweilen und die Aktivitäten finanzieren wird) die S. I., die SPUR und alle dezidierten Künstler werden ausgeschlossen, Kunst intern aufgehoben und die Praxis der Theorie geschliffen.

 

To be continued ...

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Begriffsdefinitionen


Konstruierte Situation: "durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens" (1958); "Die Konstruktion von Situationen wird die ununterbrochene Verwirklichung eines großartigen Spiels sein (...): eine Verlagerung von Schauplätzen und Konflikten mit dem Ziel, die Charaktere einer Tragödie innerhalb von vierundzwanzig Stunden auszulöschen." (1954)

 

Psychogeographie: "Erforschung der genauen unmittelbaren Wirkungen, seien sie bewußt gestaltet oder nicht, des geographischen Milieus auf das emotionale Verhalten der Individuen", auch über Austausch und Verfälschung von z. B. Stadtplänen

 

Umherschweifen: "mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise: Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen", "untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es (...) den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt"

 

Unitärer Urbanismus: "Theorie der gesamten Anwendung der künstlerischen und technischen Mittel, die zur vollständigen Konstruktion eines Milieus in dynamischer Verbindung mit Verhaltensexperimenten zusammenwirken" (1958); "Die Hacienda wirst du nicht sehen - es gibt sie nicht. Die Hacienda muß gebaut werden"; und es wird "Räume geben, die einen besser träumen lassen als Drogen, und Häuser, in denen man nur lieben kann" (1953).

 

Zweckentfremdung: "Zweckentfremdung von ästhetischen Fertigteilen. Integration aktueller oder vergangener Kunstproduktionen in eine höhere Konstruktion des Milieus", auch von Texten, Theorien, denn es "muß mit jedem Begriff des persönlichen Eigentums auf diesem Gebiet Schluß gemacht werden", und deren "Anwendung im sozialen und alltäglichen Leben" als "ein mächtiges kulturelles Werkzeug im Dienst eines richtig verstandenen Klassenkampfes"

Links:

aus: Rokko´s Adventures #1

(erschienen im Juni 2007)


Text und Photomontagen: Roland Steiner

Links:

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