Editorial_21. 6. 2006

Future Schmock

Also, ehrlich - das haben wir uns ganz anders vorgestellt! In Zeiten diktatorischer Bush-Staatsbesuche sieht man nur eine SF-Vision verwirklicht: die vom Planeten der Affen.    26.06.2006

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Unser voriger Newsletter wurde am 15. Mai verschickt, trug aber im Betreff das Datum "15. 6. 2006". Kein Mensch hat den Irrtum gemerkt, niemand hat sich beschwert. Und ehrlich - wen wundert´s?

Die Nullen-Jahre sind uns fremd, sind nicht unsere Gegenwart, sondern eine einzige Enttäuschung. Jeder, der den EVOLVER liest oder für ihn schreibt, ist ein Kind des vergangenen Jahrtausends. Und da kann es schon einmal passieren, daß man nicht nur den Monat falsch angibt, sondern überhaupt gleich "1996" statt "2006" hinschreibt. Selbst die 90er Jahre waren nämlich, trotz all ihrer Banalität und Geschmacklosigkeit, noch vertrautes Terrain, lagen kurz vor der magischen Grenze mit all ihren Science-Fiction-Träumen. Wir konnten sie noch als reale Zeit wahrnehmen, während wir ängstlich auf das Simulakrum des Dritten Jahrtausends blickten – und uns mit zunehmender Skepsis fragten, wann denn all die Prophezeiungen wohl in Erfüllung gehen würden.

Heute wissen wir die Antwort: Es war alles gelogen, alles nur der Stoff, aus dem Zukunftsromane und Technikzeitschriften sind, alles eine perfide Täuschung, um uns am Leben und bei Interesse zu halten. Wo sind denn die Rollsteige, auf denen Fußgänger schon vor fünf Jahren mühelos durch Megastädte flitzen hätten sollen?! Warum sind wir immer noch gezwungen, uns auf von Hunden vollgeschissenen Gehsteigen fortzubewegen? Wo bleiben die extrem leisen Gleiter für Privatpersonen, die Raketenrucksäcke, die rasend schnellen Einschienenbahnen?

 

Alles nicht wahr.

Stattdessen mühen wir uns am Beginn dieses dritten Millenniums ab und warten immer noch vergebens auf die rasanten Fortschritte der bemannten Weltraumfahrt, die uns längst zu fernen Planeten bringen sollte - schließlich haben wir unseren eigenen ja nur unter dieser Voraussetzung kaputtgemacht. Spätestens jetzt wollten wir von allen Krankheiten befreit sein und uns nicht mehr vor Krebs oder Vogelgrippe fürchten müssen, statt in Ganzkörperkondomen ängstlich darauf zu warten, daß uns die Umwelt oder unbedachte Sexualkontakte umbringen.

Kein Wunder, daß auch die Aliens darauf verzichtet haben, unsere rückschrittliche Erde aufzusuchen. Hierorts sind ja nicht einmal die Pläne für diverse Anti-Utopien aufgegangen, an die wir uns genauso geklammert haben wie an die schönen Visionen. Ganze Generationen wuchsen mit der Verheißung des Atomkriegs und der nuklearen Postapokalypse auf und machten gar nicht erst lange Pläne für ihre Zukunft. Dann war die UdSSR, auch bekannt als "das Reich des Bösen", plötzlich verschwunden, ein armseliges Opfer von Papst und CIA-Machenschaften, und wir freuten uns auf eine andere häßliche neue Welt - die des Cyberpunk mit seinen Neurolinks, Bewußtseins-Downloads, messerklingenbewehrten Straßen-Samurai und phantastischen Reisen durch den Datenraum, um die Herrschaft der Konzerne zu brechen.

Aber leider: PCs und immer kleinere, schnellere Silikonchips brachten uns eine ganz andere Firmendiktatur und mit ihr eine neue Art der Versklavung, in der wir für immer weniger Geld immer mehr arbeiten müssen, dauernd erreichbar zu sein haben und auf noch mehr Kanälen mit debiler Werbung zugeschüttet werden. Consume or die!

Neben den Auswüchsen des Spätkapitalismus haben wir noch eine Menge anderen Ballast aus dem alten Jahrtausend mitgeschleppt. Staatsbesuche zum Beispiel, in denen der größte Kriegsverbrecher der Welt mit ein paar kleinen Wirtschaftsverbrechern der EU-Besatzungsmacht irgendwelche Schweinereien oder neue gezielte Tötungen ausmacht. Oder ein allgemeines Politikverständnis, das sich in fadem Antifaschismus auf der einen Seite (Wie kommt man nur auf die absurde Idee, alle seine politischen Ansichten gegen ein System zu richten, das seit mehr als 60 Jahren nicht mehr existiert?) und dem dadurch hervorgerufenen, noch viel faderen und dümmeren Neo-Germanentum erschöpft, das genauso sinnlos in der Vergangenheit existiert.

Ein Großteil der populären Kultur - und der Unfähigen, die sie dem Volke vermitteln sollen - ist ebenso in längst verblaßt geglaubten Jahrzehnen hängengeblieben. Retro, wohin man auch blickt: Retro-Disco, Fun-Punk, True Metal, New New Wave, neue alte Schwulenpolitik, alte neue Wilde, alles zum Kotzen. Und als Höhepunkt des Schwachsinns schon wieder eine Fußball-WM, die Millionen Gehirngewaschener täglich mehrere Stunden an ihre Gehirnwäschekisten fesselt. Da wünscht man sich doch eine weitere Erfindung herbei, an die uns die SF einst glauben ließ: den kryogenischen Schlaf, mit dem man sich für die nächsten 1000 Jahre einfrieren lassen kann. Dann ist nämlich garantiert alles anders - oder auch schon egal.

Da uns aber nicht vergönnt ist, an solchen Experimenten teilzunehmen, müssen wir möglichst gut und klug durch die gegenwärtige Zukunft mit all ihren Fehlern und Fallen navigieren. Der EVOLVER hilft Ihnen dabei - zumindest in Sachen Popkultur und ihrer Bedeutung fürs dritte Jahrtausend. Und vielleicht auch als tröstlicher Beweis dafür, daß unabhängige Medien mit Hirn und Witz in diesem Wust aus schleimigem Staatsfunk und katastrophal schlechten "Info-Magazinen" doch möglich sind.

 

In diesem Sinne: Kommen Sie mit uns zurück in die Zukunft!

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht

 

Peter Hiess

(EVOLVER-Herausgeber und Pulp-Ideologe)

Peter Hiess

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