Editorial_31. 12. 2005

Same procedure as every year ...

Sie werden uns auch 2006 für ihre dumme Union und die Einwelt-Diktatur der Durchschnittlichkeit begeistern wollen - und wir werden auch 2006 noch dagegen sein.    09.01.2006

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Ein Jahr geht zu Ende. Es war weder besonders erfreulich noch besonders katastrophal, sondern vor allem - wie all die Nullnull-Jahre bisher - belanglos. Wir haben uns mit dem abgefunden, was uns medial und draußen auf der Straße vorgesetzt wird. Wir glauben, das muß alles so sein. Wir hoffen, daß er uns nicht auch bald erwischt, der Jammer mit den Gehaltskürzungen, Arbeitszeitverlängerungen, Entlassungen, den Ich-AGs, die in Wahrheit nichts sind als die Sozialhilfeempfänger von gestern und von morgen. Dabei stecken wir natürlich alle längst mittendrin in dem munter voranschreitenden Elend, das der Idiotenkapitalismus und der Möchtegern-Superstaat Europa wie geplant anrichten.

Österreich, das ab morgen den EU-Vorsitz übernehmen wird, ist mit einem Bundeskanzler gesegnet, der freudestrahlend aus Brüssel zurückkehrt, um zu verkünden, daß die Bevölkerung ab jetzt noch viele Milliarden Besatzungsgeld mehr zahlen muß, um bei diesem Verein bleiben zu dürfen, aus dem man (nach Art der Mafia) angeblich ohnehin nicht austreten kann. Dafür gibt´s ab jetzt etwas weniger Geld aus der Zentrale der Diktatur, weil die Subventionen naturgemäß in die neuen Mitgliedsländer fließen müssen.

Das Volk beugt das Haupt und schweigt, obwohl sein Mißmut zunimmt. Aktuelle Umfragen haben ergeben, daß mehr Österreicher denn je die EU ablehnen. Irgendeine politische Partei sollte die Gunst der Stunde nützen und eine Initiative starten, die den Großmachtirrsinn beendet. Aber nein - alle diskutieren und manipulieren planlos weiter, weil sie ohnehin in der Tasche der multinationalen Konzerne, der Weltbanken und Währungsfonds und deren amerikanischer Hintermänner stecken. Manche wollen die Europäische Union ein wenig reformieren, vielleicht den Beitritt der Türkei verhindern, eventuell ein paar Kreuzer (Verzeihung, Euro-Cent) mehr für ihre Wähler rausschlagen, aber das war´s auch schon. Und die Schlimmsten sind logischerweise wieder einmal die Grünen und Ex-Alternativen, die zu den glühendsten Verfechtern des Vereinten Europa und der Globalisierung geworden sind - kein Wunder, kommt dieses System der gesichtslosen Politkommissare, die ihr eigenes Land für ein bißchen Europa-Macht verkaufen, ihrer Vorstellung vom idealen Staat doch nach wie vor am nächsten. Dafür würden sie auch gern noch mehr Milliarden opfern, die ihnen eh nicht gehören ...

Der Rest des politisch-medialen Generalverblödungskomplexes ergeht sich in immer absurderen Ablenkungsmanövern. Da wird etwa der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad weltweit gerügt, weil er sich politisch schwer unkorrekt geäußert hat - und während die Amerikaner daraufhin schon ihren nächsten Angriffskrieg vorbereiten, haben deutsche Gutmenschen keine dümmere Idee, als den Iran nicht zur Fußball-WM einzuladen. Oder der kalifornische Gouverneur wagt es, seiner Amtspflicht nachzukommen - und ein paar Noch-Bessermenschen im Provinzkaff Graz und in diversen Faselmedien, wo mehr knecht als recht geschrieben wird, wollen ihm deswegen gleich die Ehrenbürgerschaft entziehen. (Arnie hat prompt völlig richtig auf die Situation reagiert, den Grazern seinen Ehrenring zurückgeschickt und ihnen das Recht entzogen, mit seinem Namen zu werben. Jetzt können sie ihr Stadion ja wirklich nach Tookie Williams benennen - und werden sich wahrscheinlich nie wieder mit Conan anlegen).

Der bisher letzte Sturm im Wasserglas brach wegen einer Reihe von EU-Propagandaplakaten los, mit denen die österreichische Regierung eine Reihe europäischer Künstler beauftragt hatte. Das Ergebnis ist großteils der Was-sind-wir-progressiv-und-originell-Müll, der von Alternative-Mainstream-Systemkunsthandwerkern zu erwarten war. Doch ein Sujet gab es, das quer durch die Parteienlandschaft und die Medienszene aufregte: ein flotter Dreier zwischen unattraktiven Menschen, die Politikermasken tragen. Sowas geht nicht, auch wenn die Idee älter ist als Udo Jürgens ... Der Skandal führte dazu, daß plötzlich jeder Verantwortliche in Österreich die Verantwortung für die mißlungene Europrop-Kampagne ablehnte und nie Steuergelder dafür verschwendet haben wollte, daß sich sogar "fortschrittliche" Oppositionelle wie Moralhüter aufführen, daß die langweiligen Werbebildchen beseitigt werden mußten und daß sich einige der beteiligten Künstler und -inninnen nun endlich wieder über "Zensur" beschweren können.

Das alles ist nicht nur abscheulich und perfid, sondern vor allem dumm, offensichtlich und langweilig - genauso wie die Züge der Wiener Straßenbahnlinie D, die neuerdings mit EU-Flaggenfarben und fremdsprachigen Aufschriften durch die Stadt geistern, was einfach nur peinlich aussieht. Aber immerhin: Auch solche offenbar von Betriebswirtschaftlern erdachten Agitprop-Methoden spiegeln das Jahr 2005 perfekt wieder. Belanglos halt, in fast jeder Hinsicht. Außer natürlich im EVOLVER. Der hatte in den vergangenen 365 Tagen mehr und Wichtigeres zu sagen, und genauso wird es auch in den kommenden zwölf Monaten sein, nur noch besser. Darauf können Sie sich verlassen.

 

In diesem Sinne: Alles Gute für 2006 und viel Spaß beim Lesen wünscht im Namen der EVOLVER-Redaktion

 

Peter Hiess

(EVOLVER-Herausgeber und -Nichteuropäer)

 

Peter Hiess

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