Kino_The Brown Bunny

Das Leben als Unschärferelation

Schon lange löste ein Film nicht mehr solche Kontroversen aus. Der kompromißlose zweite Streifen von Vincent Gallo polarisiert wie seine Person selbst: Entweder man haßt oder verehrt ihn.    13.11.2003

Auch im Filmbiz gilt die Bauernregel: Unbequeme Individualisten sind selten gefragt. Und so läßt das hehre (Fach-)Publikum auch kaum Gelegenheiten zu strengen Verweisen und öffentlichen Abmahnungen aus. Da kommt ein kleines Universalgenie wie Vincent Gallo gerade recht – provokanter und anarchischer Schauspieler- und Regie-Gott für die einen, spielt er für die anderen eine Rolle zwischen eigenbrötlerischem Enfant terrible, bösem Krokodil und reaktionärem Wirrkopf. Also holte man nach dem vielgelobten tragikomischen Debüt "Buffalo ´66" den Knüppel aus dem Sack und qualifizierte das desillusionierte Drama "The Brown Bunny" mit viel Häme in Cannes zum "schlechtesten Film aller Zeiten" ab.

Zu Unrecht. Denn die Story um den Motorradrennfahrer Bud Clay (Vincent Gallo) endet – soviel vorweg mit einer emotionalem Magenheber. Doch bis dahin präsentiert sich der uneingeschränkte Autorenfilm als langsames Road-Movie. Bud tingelt mit seiner Maschine von Rennen zu Rennen quer durch Amerika. Eine Monotonie aus Highways, Motels und Straßenschildern, nur unterbrochen von ewig gleichen Städten und Trainingsrunden im Nirgendwo. Festgehalten sind die endlosen Fahrten großteils mit subjektiver Kamera, oft unscharf, verwackelt, verblichen. In einer Art Hyperrealismus zeichnet Gallo so eine äußerst wirklichkeitsgetreue Sichtweise. Im Alltäglichen der Wiederholungen verschwimmen Erinnerungen, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, rückt Nahes in die Ferne und umgekehrt. Im Licht beklemmender Langeweile oder Traumata verschwinden Horizonte; selbst die atemberaubendsten Naturkulißen zerrinnen zu flirrenden Luftspiegelungen, werden Sinnestäuschungen. Die Reise wird auch zur Suche nach Buds Ex-Frau Daisy (Chloe Sevigny) und Liebe. Die Stationen dabei sind ebenso desolat wie die Versuche, sich anderen Frauen und Prostituierten (die als poetischer Kontrast übrigens Blumennamen haben) zu nähern. In einem Motel vollzieht sich die bewußt schleppende Geschichte in einem dichten Schlußakt. Der beinhaltet nicht nur eine explizite Fellatio, sondern auch einen radikal-intensiven Geschichtenkern, der Buds Leben und den gesamten Ablauf erklärt.

"The Brown Bunny" ist ein Schlag in die Magengrube, nicht bloß von Kritikern. Die konsequent "schlechte" Machart im "Über-Dogma"-Stil werden empfindungslose Zuseher trotz des Cuts auf 90 Minuten sicher als nervtötend oder langatmig bezeichnen. Doch letztlich paßieren auch im so genannten "wirklichen" Leben die größten Tragödien mit einer beispiellosen Beiläufigkeit, was sie meist nur noch grausamer macht.

Der Film ist aber auch ein Schlag gegen die Vereinnahmer Gallos, die ihn gerne abfeiernd auf den selbstverliebten Zyniker und egomanischen Selbstdarsteller reduzieren, der total "independent" gegen das "Big System" rebelliert. Vermutlich ist der 1962 in Buffalo geborene Actor/Director, Model, Maler und Musiker auch ein Agent provocateur - wegen der flächendeckend bornierten Langeweile ringsum. Einer der für seine nicht zu wenigen Feinde immer eine verbale Breitseite parat hat wie: "I´m sorry I´m not gay or Jewish, so I don´t have a special interest group of journalists that support me. I´m sorry for a lot of things, but I´m not sorry for making this movie." In Wahrheit ist Vincent Gallo einfach nur jemand, der extrem grandiose Geschichten erzählt. Sehenswert.

 

Klara Musterfrau

The Brown Bunny

ØØØØØ


USA/Japan 2003

90 Min.

engl. OF mU

Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt: Vincent Gallo

Darsteller: Vincent Gallo, Chloe Sevigny, Cheryl Tiegs u. a.

 

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