Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Zukunftsschmock
Dr. Trash empfiehlt: Lassen Sie sich Ihren "sense of wonder" nicht nehmen. Schon gar nicht von Science-Fiction-Autoren, die genausogut für den Innenpolitik-Gehirnwäsche-Teil der nächstbesten Qualitätszeitung schreiben könnten ... Gute Zukunftsliteratur hält sich nicht mit den erfundenen Problemen von heute auf, sondern läßt uns in andere Welten und Universen vorstoßen, wo der "große Bruder" längst in Pension ist.
11.03.2013
Der Doc staunt selbst mehr darüber als der Rest der Welt - aber auch er verschläft manchmal Entwicklungen der Populärkultur. Heute zum Beispiel hat er erfahren, daß es ein Genre namens "mundane science fiction" gibt, das bereits 2002 vom Autor Geoff Ryman ins Leben gerufen wurde. Und das sich das angeblich gleich zu einer "Bewegung" entwickelte, von der man außerhalb von Schriftsteller-Workshops allerdings nicht viel mitgekriegt hat. Dieser Zweig der Zukunftsliteratur kasteit sich, indem er davon ausgeht, daß es keine überlichtschnelle Raumfahrt geben kann, daß die Aliens nie daherkommen werden und daß Parallelwelten nicht existieren. Daher soll sich die SF-Szene bitteschön brav und politisch korrekt auf Menschheit, Erde und Sonnensystem beschränken. Weil wir doch sowieso genug mit der Ressourcenverknappung, der globalen Erwärmung und anderen Problemchen zu tun haben, die man uns täglich via Mainstream-Medien als brechreizfördernde Diät vorsetzt. Wer phantastische Literatur konsumiert, die über diese engen Grenzen hinausgeht, mache sich des Eskapismus schuldig und verhalte sich wie ein Teenager, der das elterliche Heim verlassen will.
Die Vertreter der neuen Richtung hätten sie gern als "realitätsnahe Science Fiction" definiert; ein Blick ins Wörterbuch offenbart aber, daß "mundane" auch mit "banal" und "stumpfsinnig" übersetzt werden kann. Und soll. Man darf sich von solchen Arschlöchern nicht alles gefallen lassen.
Jaja, normalerweise verwendet der Doc derartige Kraftausdrücke nicht, aber dieser Unfug hat ihn doch bestürzt. Weil er nämlich bei seiner Recherche über die britische SF-Zeitschrift Interzone davon erfahren mußte, die dem lächerlichen Subgenre vor fünf Jahren eine ganze Ausgabe gewidmet hat. Sein Abo wird er trotzdem nicht kündigen. Das bereitete ihm schon in den Achtzigern große Freude (als das Heft noch vom Ballard-Experten David Pringle geleitet wurde) und ist seit drei Jahren wieder aktiv. Unter dem derzeitigen Chefredakteur Andy Cox sind die Interzone-Kurzgeschichten zwar gelegentlich mehr "mundane" als mondän und halten sich mit den bösen Nationalstaaten oder dem Elend in der Dritten Welt auf, aber damit will man sich anscheinend von billigen Pulp-Blättern unterscheiden. Die vielen guten Stories, exzellenten Rezensionen und Kolumnen trösten darüber hinweg; gleiches gilt übrigens auch für die Publikationen Black Static (hervorragender Horror) und Crime Wave (tiefschwarze Thriller) aus demselben Verlagshaus.
Werfen Sie also einen Blick auf die Homepage , abonnieren Sie - und lassen Sie die Realitätsflucht hochleben. Schließlich wollten wir doch immer schon von zu Hause weg.
Dr. Trash
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