Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Kraftlos

Dr. Trash empfiehlt: Gehen Sie in den Wald. Lassen Sie sich dort von sinnlosen Wandertafeln erläutern, wie man atmet und ein Bein vor das andere setzt. Denken Sie immer daran, daß sowas Beamte erfinden, die von selber tatsächlich nicht einmal Luft holen können. Verzweifeln Sie erst, wenn Ihnen ein Wegweiser mit Hinkelstein-Esoterik droht. Bleiben Sie stehen und lassen Sie Ihrer Zerstörungswut freien Lauf.    22.10.2011

Der Laie (ja, das sind Sie) vermag es sich kaum vorzustellen - aber auch der Doc mit all seinen nächtlichen Neigungen kann dem Sommer nicht entkommen. Also geht er hinaus in die Natur, vorzugsweise an bewölkten Tagen, schreitet gemäßigten Schrittes durch Wald und Feld, freut sich über die orangefarbenen Psychedelikgläser seiner Ray-Ban und kann das Lesen einfach nicht lassen. Schließlich gibt es überall erklärende Wandertafeln, prospektbestückte Sehenswürdigkeiten und andere Dinge, die sich die Leute in den Fremdenverkehrsbüros so ausdenken, damit sie nicht den ganzen Tag nutzlos herumsitzen.

Leider sind die Stadt- und Landschafts-Markenmanager - oder wie sich die analphabetischen Schwachköpfe heutzutage nennen - scheinbar übereingekommen, die Welt bis in den hintersten Winkel mit verbalem Unfug zuzuschütten. Wie sonst wäre es zu erklären, daß es plötzlich überall "Kraftorte" gibt? Früher hätte man hinter diesem Begriff bestenfalls ein Fitneßstudio vermutet, in dem Büromenschen sich sinnlose Muskeln antrainieren. Heute jedoch ist jeder größere Felsen ein Kraftort. Und jeder Landstrich "mystisch". Tourismusindustrie und Buchmarkt haben sich in diesen Blödsinn geradezu verbissen: Dem "mystischen Waldviertel" (wo der Jammer seinen Anfang nahm, als ein paar aus Wien vertriebene Hippies zum ersten Mal in der Blockheide standen) folgte das "mystische Mühlviertel", und heute ist sogar der schöne Dunkelsteinerwald "still, einsam, mystisch". Unter dem großen Mugel bei Großmugl wurde eventuell einmal ein eisenzeitlicher Fürst begraben (bisher hat keiner nachgeschaut) - doch auch der hätte sicher keine Freude damit, wenn hirnlose Hauptstädter, bewehrt mit dem sagenhaft dummen Buch Kraftorte in Niederösterreich, den Family-Van vor seinem Grabhügel einparken, schnell ein paar Handyphotos schießen und dann zum nächsten "geheimnisvollen" Ort der Kraft weiterziehen. Wer bei Amazon nach dem Schreckenswort "Kraftorte" sucht, kriegt 600 Ergebnisse ausgeworfen. Der Doc möchte allerdings kein einziges dieser Werke genauer studieren, da er fürchtet, sich anhand derartiger Lektüre in eine Frau im Wechsel zu verwandeln und demnächst einen Töpfer-Selbsterfahrungskurs mit angeschlossener Familienaufstellung inskribieren zu müssen.

Also wandert er weiter einsam und pessimistisch durch die Wälder, versucht den allerorts neu erfundenen Jakobswegen und Mythensteigen großräumig auszuweichen, klettert finstere Klammen hinauf und kommt verschwitzt, aber glücklich am Gipfel an - nur um dort ein Schild mit der Aufschrift "Druiden-Wanderweg" zu entdecken. Und er weiß: Hier hat er den Ort gefunden, wo er seine mystische Notdurft verrichten kann.

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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