Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Plansoll
Dr. Trash empfiehlt: Weichen Sie Menschen aus, die flanieren - ob sie's nun in Städten tun oder in den vielbeschworenen Landen der Phantasie. Wer kein Ziel hat, ohne Queste globetrottelt oder einfach nur vor sich hinspaziert, der wird auch keinem fehlen, wenn ihm im Wald ein Baum auf den Kopf fällt. Genausowenig wie seine belanglosen Reiseaufzeichnungen und Wegbeschreibungen.
26.04.2012
Der Doc gehörte nie zu den Leuten, die mit "realen" Landkarten etwas anfangen konnten. Wozu auch - wenn doch die real existierende Landschaft oft von derart ermüdender Ödnis ist wie der Rest der Realität? Da kann es schon vorkommen, daß der letzte Rest möglicher Überraschung durch das vorangegangene Studium des Kartenmaterials verlorengeht. Und der Anblick jener verlorenen Existenzen, die selbst auf Reisen ihren Blick nicht auf die Umgebung richten, sondern stattdessen dauernd nur den mitgeführten Schulatlas konsultieren, ließ den Verfasser dieses kleinen Traktats stets vermuten, daß wir uns längst in der Hölle befinden und selbst immer neue Qualen ausdenken. Aber dazu ein andermal mehr, vielleicht im privaten Gespräch.
Jedenfalls waren die einzigen Landkarten, die den Nervenarzt Ihres Vertrauens je interessierten, die in Fantasy-Büchern. Belesene Eskapismus-Profis erinnern sich: diese handgezeichneten Pläne vor dem erstem Kapitel, auf denen mysteriöse Moore, unerforschte Dschungel und die verschollenen Wüstentempel uralter Schlangengötter eingezeichnet waren. Auf ihnen konnte - und kann - man die Wege Conans durch Hyboria, die Diebszüge von Fafhrd und dem Grauen Mausling in der legendären Stadt Lankhmar und die vom Endlosen Ozean eingekreisten Kontinente Magiras (ich sage nur: Terra Fantasy) verfolgen, sich noch besser in die Abenteuer hineinversetzen und den unendlichen Mühen des Alltags entkommen.
Ähnliche Intentionen mögen Werner Nell - der sich bedrohlicherweise "literarischer Weltenbummler" nennt - und seinen Illustrator mit dem trefflichen Namen Steffen Hendel bewegt haben, als sie für den Lexikon-Fachverlag Meyers den Atlas der fiktiven Orte schufen. Klingt reizvoll, doch schon der Untertitel "Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen" weist darauf hin, daß es hier um Ausflugsfahrten in die Hochkultur geht. Und tatsächlich führt das Kartenwerk den Betrachter nach Walhall, Camelot, Lilliput und ins Märchenland Oz; aktuell populäre Ziele wie Entenhausen und die Simpsons-Heimat Springfield sind leider die Ausnahme. Dank der gutinformierten, wenn auch etwas trockenen Fiktivtourismus-Texte ließe sich das ja noch verkraften, wenn man wie der Doc mit einer soliden Allgemeinbildung gestraft ist. Nur leider ist das Herzstück des Buches - nämlich die Land- und Stadtkarten - so lieblos gestaltet, dass man sich weder in Brechts Stadt Mahagonny noch nach Tolkiens Mittelerde eingeladen fühlt.
Schade. Aber andererseits warten im Archivregal ja immer noch die Fantasy-Taschenbücher, die zumindest den guten Doktor ins mythenumwobene Reich seiner Jugend entführen wollen. Und können.
Dr. Trash
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