Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Trollwut
Dr. Trash empfiehlt: Nehmen Sie William Gibson nicht mehr ernst - den hat die Zukunft längst überrundet (weshalb er sich jetzt auch in einer faden Kunstlumpen-Pseudogegenwart verlustiert). Genießen Sie lieber die Vermischung seiner einst messerscharfen Cyberpunk-Vision mit Fantasy-Elementen, die auch für Österreicher interessante Zukunftsaussichten offenbart. Und immer daran denken: Es kann nicht mehr schlimmer werden.
21.08.2010
Cyberpunk war seinerzeit keine schlechte Idee. "Urban Fantasy" - mit Straßenelfen, Leibwächter-Trollen und Zwergen-Geldverleihern im modernen Setting - hat auch ihren Sinn, wenn sie nicht in den feuchten, geldgierigen Händen der unfähigen All-Age-Phantasten landet. Und Alternative History ist sowieso faszinierend.
Ach was, finden Sie auch? Dann müßten Sie eigentlich Shadowrun in- und auswendig kennen. Wenn nicht, hier kurz die Hintergründe: Anfänge als Pen & Paper-Rollenspiel, später kurze und leider relativ verpatzte Game-Ausflüge auf Computer und Konsole, jetzt eine erfolgreiche Romanserie mit mehr als 80 Bänden, die sich auch abseits von RPG (Role Playing Game, falls Sie wirklich keine Ahnung haben ...)-Kreisen längst etabliert hat, auf deutsch u. a. bei FanPro herauskam und jetzt wieder bei Heyne erscheint. Die Grundidee: Als die Magie auf die Erde zurückkehrt, vermischt sich die Welt der alles beherrschenden Konzerne, der Hacker und des Cyberspace mit Wesen, die wir sonst nur aus "Herr der Ringe"-Kreisen kennen. Und daher gibt es jetzt Orc-Söldner neben hermetischen Magiern, vercyberte Killergirls neben Rigger-Zwergen (die Maschinen durch Gedanken steuern können), aber auch Drachen, die zusätzlich erfolgreiche Geschäftsleute sind. "Shadowrun" führt uns in die wunderbare Welt der Matrix, wie sie einst William Gibson erdachte, aber auch in ehemals zivilisierte Gebiete, die in der "sechsten Welt" wieder mystischen Wesen gehören.
Ein erheblicher Teil der Schattenläufer-Romane stammt übrigens von deutschen und österreichischen Schriftstellern (auch Kabarettist Leo Lukas lieferte mit Wiener Blei einen hervorragenden Beitrag ab, bevor er bei Perry Rhodan anheuerte). Einer von ihnen ist Christian Riesslegger, dessen Doppelband GmbH und Cash Flow 2009 bei Heyne als massives 730-Seiten-Taschenbuch unter dem Titel Cash erschien. In kurzen Kapiteln und mit allzu häufigen Szenenwechseln erzählt der Österreicher die lange und verwirrende Geschichte eines "Runs" auf Datenkuriere und Politbonzen, vermischt mit der 30 Jahre zuvor handelnden Story eines frischgebackenen Agenten des militärischen Geheimdiensts.
Aber der Plot spielt ja eigentlich keine Rolle. Das Entscheidende an Cash ist, wie gern Riesslegger erzählt (bzw. sich erzählen hört) und was er sich alles für die österreichische Zukunft, die oft nur ein Gleichnis für die Gegenwart ist, ausgedacht hat. Da kommen die Roten genauso schlecht weg wie die Blauen und die Braunen, da ist Kärnten von Magie zerbombt, Salzburg wird von der Kirche beherrscht und die Neue Donaumonarchie ist Wirklichkeit geworden. Und von der EU redet - den Schatten sei Dank! - kein Mensch mehr ...
Dr. Trash
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