Kolumnen_Depeschen aus der Provinz/Episode 12

Grenzkontrolle

In der Provinz hört dich niemand schreien. Also, die Nachbarn vielleicht, und die verständigen irgendwann die Behörden, wenn der Krawall nicht aufhört. Aber für deine ehemaligen Bekannten aus Wien bist du mindestens scheintot. Und das verstehst du leider nur zu gut.    23.09.2019

Dort, wo ich jetzt wohne, denke ich gelegentlich an früher. An die Zeit, als ich noch in der Stadt war - und mich vor vielen, vielen Jahren wunderte, warum ein paar beste Freunde aufs Land zogen. Meistens waren die Kinder schuld, "weil die sollen´s da draußen schön haben, bei uns ist es eh so dreckig und gefährlich, und dort sind sie wenigstens im Grünen." Und das sagten ausgerechnet Leute, die mit mir im 20. Wiener Gemeindebezirk aufgewachsen waren, wo man schon froh sein mußte, wenn man seine Milchzähne auf natürliche Art verlor.

Aber das Leben ist gnadenlos. All die "Zurück zur Natur"-Städter, die sowas wie Natur bestenfalls aus dem Fernsehen und dem Tiergarten kannten, sitzen heute als Geschiedene verlassen in ihren idyllischen Häuschen - und wundern sich, warum die Kinderlein, die doch so behütet aufwachsen hätten sollen, spätestens mit Einsetzen der Pubertät nur mehr eines wollten: "Darf ich bitte in die Stadt fahren, ihr langweiligen Eltern, da heraußen ist doch eh nix los?!" Jetzt haust der Nachwuchs in sündteuren WG-Zimmern in Wien, trägt Dreadlocks und Hängehintern-Jeans, hört schlechte Musik und schmiert sich die Weichteile mit Haschöl ein. Ganz der Papa, eigentlich. Nur besuchen wollen sie den alten Herrn nicht mehr, da draußen am Land, und die Frau Mama, diese längst verblichene Dorfschönheit, ist sowieso längst mit einem andalusischen Biobauern an den Rand der Wüste gezogen.

Warum ich an sowas denke? Nein, nicht nur aus Bosheit, ehrlich. Sondern weil ich merke, daß mich dort, wo ich jetzt wohne, auch keiner mehr sehen will. Obwohl die Verkehrslage erstklassig ist, praktisch direkt an der Autobahn, und der Zug bleibt auch alle Stunden hier stehen, und von Wien ist es nicht weit hierher ...

Klingt alles hervorragend. In einem Reiseprospekt würde ich genau das schreiben. Im wirklichen Leben eines Wieners hingegen zählen solche Argumente elfe. Da fährt man höchstens einmal mit dem Auto oder der Eisenbahn raus und besucht den Weggezogenen, damit man sieht, wie er jetzt sein Dasein fristet. Danach sagt man "Servas! Supa habts es da! I kumm bald wieda!" und tritt kopfschüttelnd die Heimreise an, um sich garantiert nie mehr blicken zu lassen. Weil ein echter Wiener grundsätzlich nie versteht, warum jemand wegzieht, noch dazu nicht in eine andere Stadt oder wenigstens nach Texas, wo Cowboys noch Cowboys sind, sondern ausgerechnet in die Provinz, wo sich sogar Fuchs und Hase bis zur Besinnungslosigkeit betrinken müssen, bevor sie einander gute Nacht zulallen.

Nein, für den Wiener ist alles eine "Weltreise", wie er bereits bedeutungsschwer sagt, wenn ihn ein Ausflug über die Bezirksgrenzen hinausführen soll; daran erinnere ich mich nur allzu deutlich. Ich entsinne mich der Zeiten, als schon ein projektierter Spaziergang in die Innere Stadt (vom U-Bahn-Ansager auch "Citää" genannt) Stunden der meditativen Vorbereitung erforderte, um die innere Toleranz gegen überteuerte Schickimicki-Auslagenlokale und deren generalverblödetes Publikum zu stählen. Oder an die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich wider besseres Wissen zu Exkursionen nach Transdanubien überreden ließ, wo man hochtechnisierter Survival-Ausrüstung bedarf, um nicht dem real existierenden Kaisermühlen-Blues zum Opfer zu fallen. Oder auch an die Wanderungen in den Wienerwald, die von langer Hand geplant sein wollten, wie einst Expeditionen auf den Südpol oder auch zum Südbahnhof, wenn man wohlbehalten nach Hause beziehungsweise in eine der sicheren Heurigengegenden am Stadtrand zurückzukehren gedachte.

Wenn ich an all das zurückdenke, wird mir auch klar, warum ich besagte Aussiedler in den Jahrzehnten ihres provinziellen Exils kein einziges Mal besucht habe. Eine Weltreise, wie gesagt. Und nach der Heimkehr von Weltreisen oder auch Urlauben am Meer ist man als geborener Wiener bekanntlich so deprimiert, daß man lieber gleich zu Hause geblieben wäre.

Jetzt bin ich selber in der Provinz. Und alleine. Geschieht mir recht. Neben der Wiener Mentalität verblassen naive Visionen von einer "Welt ohne Grenzen" - genau deshalb drücken die 68er-Diktatoren sie ja heute mit Gewalt durch. Aber denken wir nur an John Lennon, der einst delirierte: "Imagine there´s no countries, it isn´t hard to do ..." Bald darauf sperrte er sich in seiner Wohnung ein und pflegte der Heroinsucht. Und als er Jahre später wieder rausging, wurde er erschossen.

Weil so geht die Welt.

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien. Dann entschloß er sich, in die Provinz zu übersiedeln. Wie sich das anfühlte, erfahren Sie hier.

Kommentare_

Print
Klaus Ferentschik - Ebenbild

Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 42

Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 40

Weana Madln 2.0

Treffen der Giganten: Der "Depeschen"-Kolumnist diskutiert mit dem legendären Dr. Trash die Wiener Weiblichkeit von heute. Und zwar bei einem Doppelliter Gin-Tonic ... weil man sowas nüchtern nicht aushält.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 39

Der Tag der Unruhe

Unser Kolumnist läßt sich von Fernando Pessoa inspirieren und stellt bei seinen Großstadtspaziergängen Beobachtungen an, die von ganz weit draußen kommen. Dort wirkt nämlich selbst das Weihnachtsfest noch richtig friedlich.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.