Kolumnen_Miststück der Woche - V/013: Kevin – Allein zu Haus

JARV IS...: "House Music All Night Long"

Wenn man das Leben einbremst, sich ausbremst und damit dann letztlich wieder auf die heimische Scholle fokussiert, dann kann es irgendwann auch wieder dazu kommen, daß die Mitbewohner - Opa, Oma, Partnerin, Kind und Haustier - gemeinsam den "Katzenjammer Blues" anstimmen. Das findet jedenfalls Manfred Prescher.    15.04.2020

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.


Der heutige Katzenjammer-Blues klingt in den meisten Fällen nach einer schrägen Version von "Aristocats", wird aber trotzdem gern ins Netz hineingestreut. Schließlich will man mit dem Familienelend in den elenden Zeiten nicht ganz allein sein. Freilich wärmt virtuelle Nähe nicht so sehr wie eine durchtanzte Nacht in der engen Clubhölle. Dort, wo sich Viren, Alkohol und Hedonismus treffen, ist es halt doch schön kuschelig.

Würde ich jetzt im typischen "RTL-Trotteldeutsch" schreiben, so müßte ich eine überhöhte Betroffenheit in reißerische Sätze packen. Die sollten dann so kurz und einprägsam sein, daß auch der bildungsfernste Vorschulabbrecher nach der Werbung noch grob umreißen kann, worum es vor den Spots ging: "Wir werden alle sterben." Das stimmt schon einmal - und ist trotzdem auch drastisch genug: "So wie dem toten Maik H. aus L. geht es grad vielen. Sie hätten daheimbleiben müssen." Das reicht erstmal, denn mehr Sätze wären schon ein intellektüberfordernder Sprach-Overkill. Außerdem: Wer über zu viel Inhalt auch noch nachdenken muß, weil das alles die persönliche CPU überlastet, der kommt leicht zu spät zur Corona-Party hinter der OMV-Tankstelle.

Wir werden alle sterben - schon klar. Bis es soweit ist, kann man aber auch gern noch dem Hedonismus frönen. So in etwa entstand mitten im Drogendschungel von Chicago seinerzeit der House Sound: Zwischen AIDS und Bandenkrieg schafften es Frankie Knuckles, Fast Eddie oder Joe Smooth, einen durchaus lebensbejahenden Klangteppich zu knüpfen. Hört man heute die alten Tracks aus den mittleren 1980er Jahren, steckt der positive Groove immer noch an. Selbst viele Love Parades später ist die spielerische, fast unschuldige Leichtigkeit überwältigend. Man blendete einfach alles aus, vom NATO-Doppelbeschluß bis zur Seuche, die am liebsten Hedonisten befiel. Ganz nebenbei: Mich wundert, wie clever man die teutonische Kälte von Kraftwerk in Tänze umwandelte, die für Hitzewallungen sorgten. Speziell in der 206 South Jefferson Street in Chicago gelang das auf atemberaubende Weise. Dort war seit 1977 das "Warehouse" angesiedelt, jener Schuppen mit angeschlossenem Aufnahmestudio also, der der House Music den Namen geben sollte.

Die Kreativen trafen sich seinerzeit nicht hinter der Tankstelle, weil die "Tankstö" (Kurt Ostbahn) eigentlich ein Ort ist, an dem man traditionell eher dann abhängt, wenn einem sonst nichts mehr einfällt, die Nacht praktisch vorbei ist, Hunger und vor allem Durst ihren Tribut fordern - und der Club dem Putzpersonal überlassen werden muß. Merkwürdigerweise ist es heutzutage zwischen Obereinherz und Obergurgl oft so, daß das RTL-II-Zielpublikum sich abends an den örtlichen Ausfallstraßen zum Hauptglühen zusammenrottet, weil ihnen nicht einfällt, was sie zwischen Vorglühen und finalem Absacker mit sich und der Zeitinsel, auf der sie herumlungern, noch machen könnten. Und wenn dann doch eine Idee auftaucht, dann ist das eher eine, die in ihrer Hirnrissigkeit leicht zum Straftatbestand werden kann. Steinplatten auf Eisenbahnschienen legen, Haustiere an Bäume nageln, gezielt ältere Menschen anhusten - all das ist so eben und nicht zum ersten Mal passiert. Natürlich hat nicht jeder, der sich an der Tankstelle durch die Nacht säuft, automatisch solche Ideen, aber vermutlich wird an diesen Orten eher selten der Versuch unternommen, die Welt zu retten. Die Welt, die ja eine wunderschöne, zwischen nächtlicher Zapfsäulenarmada und Spritpreisstele aber doch eher eine triste Gegend ist.

Ausgangsbeschränkungen haben daher auch ihre Vorteile, das muß man, um Bernd Höcke und seinen Clan zu zitieren, "doch mal sagen dürfen". Man trifft auf viele Leute nun staatlich garantiert nicht mehr. Je nach Heimatlandstrich rücken einem die anderen Rheinländer, Wiener, Schwaben, Steirer, Tiroler, Nieder- und sonstigen Sachsen einfach mal nicht auf den Pelz. Leitmayr, Batic, Bibi Fellner und ihre Kollegen von den Corona-SOKOs sorgen für Ruhe. Im restlichen Leben bricht sich zwar das Chaos in jederlei Hinsicht seine Bahn, aber zum Überleben muß man zwangsläufig auch mal das wenige Gute im Schlechten sehen - womit wir wieder beim "House Sound" wären.

 

Bei Licht betrachtet war das Chicagoer "Warehouse" ein ebenso trister Ort wie die nächtliche Tankstelle. Aber man betrachtete den verranzten Lagerschuppen sowieso immer nur im Fastdunkel der Stroboskop-Kugeln. Oder gar nicht, weil das Geld nicht reichte, um nach Übersee zu fliegen, was für Jarvis Cocker und mich auf jeden Fall seinerzeit galt. Wir sind beide etwa gleich alt und waren, als der House-Sound erfunden wurde, dem Gesetz nach zwar erwachsen, hingen aber trotzdem unseren "Teenagerträumen" (Peter Kraus) nach. In unseren heimatlichen Industriestädten suchten wir dazu die lokalen Importplattenhändler heim und kauften die wirklich genialen Scheiben - etwa "Bring Down The Walls" von Robert Owen - für sündhaft viel Geld. Warum ist uns eigentlich nie eingefallen, daß man die Knete auch für den Besuch im "Warehouse" sparen könnte? Vermutlich, weil uns beiden im Grunde klar war, daß der Gegenwert im Vergleich zu den Platten dann doch eher dürftig gewesen wäre. Oder wie es die beste Liebespartnerin von allen einmal sagte, als sich Frankie Knuckles´ "Your Love" auf dem Turntable drehte: "Du mußt nicht nach Chicago geflogen sein, um von den ach-so-guten alten Zeiten zu schwärmen. Das kriegst du nervigerweise auch so hin." Da ist was dran, denn die Zeiten waren gar nicht mal so gut - von gewissen Momenten und unter anderem von "Your Love" abgesehen.

 

Weder Jarvis Cocker noch ich waren also je im "Warehouse". Aber trotzdem ist was aus uns geworden. Ich schreibe seit Jahr und Tag meine Kolumnen und lebe daher immer in Schreibtischnähe, was in den engen Grenzen der mir zugestandenen acht Quadratmeter und der selbstauferlegten Ausgangssperre allerdings nicht schwer ist. Und Cocker? Der wurde mit Pulp zu einem der Helden des Britpop - und das, obwohl es die Band schon lange vor Oasis oder Blur und damit vor dem Britpop-Hype gab - sie wurde bereits 1978, also praktisch gleichzeitig mit dem "Warehouse", gegründet. Cocker und seine Kumpels hatten sich gerade erst in der Schule des Lebens eingeschrieben und führten ein längerfristig angelegtes künstlerisches Schattendasein. Vermutlich reichte das Geld meist nicht mal für ein Wochenendticket durch das heimische Yorkshire. Aber der House Sound aus Chicago war dennoch stilprägend für Cocker - wer will, kann es den Pulp-Meisterwerken der 1990er Jahre auch anhören. Legt einfach mal "Different Class" oder "This Is Hardcore" auf.

 

 

Mit seinem aktuellen Projekt JARV IS... nähert sich Cocker dem klassischen Groove noch mehr. Das konnte man schon beim ersten, im vergangenen Jahr veröffentlichtem Track "Must I Evolve?" nachhören. Die zweite Vorab-Single zum bevorstehenden Album transportiert die Verbindung zum "Warehouse" sogar schon im Titel "House Music All Night Long". Das Stück schreit danach, im Club gespielt und als Extended Version unter die Hedonisten dieser Welt gestreut zu werden. Irgendwie retro klingt der Track schon, aber das "Irgendwie" verflüchtigt sich mit dem Beat recht zügig. Genauso geht es mir mit den House-Tracks von annodunnemals: Die Magie ist nicht verflogen und entfaltet ihre kolossale Wirkung immer noch. Die Klassiker aus Chicago könnten sogar hinter der Tankstelle funktionieren, aber um "The Jungle" von Jungle Wonz zu kennen, sind die People dort einfach nicht cool genug. Oder zu jung. Oder beides. Sicher ist aber, daß Cocker den Track zu seinen Favoriten zählt. Hört euch einfach mal sein "House Music All Night Long" und "The Jungle" hintereinander an ... Ihr sitzt doch eh auf eurer Zeitinsel und überlegt, was ihr tun solltet. House Sounds funktionieren, das sagt ja schon der Name, auch zu Hause.

Nächste Woche stelle ich euch eine neue Band vor, die gar nicht mal mehr so neu ist: Porridge Radio. Bis dahin macht es gut, bleibt gesund und munter.

Manfred Prescher

JAR VIS... - House Music All Night Long

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