Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Schattenleben
Dr. Trash empfiehlt: Finden Sie sich zwischen den Seiten eines Buches wieder - nicht nur als Leser, nein, auch als literarische Figur. Das kostet im günstigsten Fall nur ein paar Kreuzer und macht Ihr Leben garantiert interessanter. Außerdem ersparen Sie sich auf diese Weise üble Selbstverwirklichungs-Peinlichkeiten wie S/M-Kaffeehäuser oder Dreadlocks.
26.11.2008
In Wahrheit wäre jeder gern eine Romanfigur.
Das können Sie dem Doc ruhig glauben - immerhin werfen ihm einfache Gemüter regelmäßig vor, selbst nur eine fiktive Gestalt zu sein. Purer Unfug! Niemand könnte realer und bodenständiger sein als Ihr alter Trash, der es in seiner Bescheidenheit halt meist vorzieht, hinter sein Werk zurückzutreten. Aber selbst er fragt sich manchmal, ob die Realität, die man uns vorsetzt, wirklich alles sein kann: der Arbeitsalltag, der sich zu 50 Prozent im Löschen von Spams erschöpft; die johlenden Problemvölker draußen vor den Fenstern, die sich gegenseitig mit "Euter!" titulieren; die widerliche Zuhälterpolitik, die aus jedem betrügerisch veranlagten Proleten einen erfolgreichen Wirtschaftstreibenden macht ...
Ja ja, ich weiß schon, ich soll mich nicht schon wieder echauffieren, der Blutdruck und die Nerven, nur die Ruhe, Dr. Trash. Aber in einem Roman gefiele es mir entschieden besser; notfalls würde ich auch mit einer Kurzgeschichte vorliebnehmen. So geht es anscheinend auch einem (möglicherweise ohnehin erfundenen) Kollegen von mir, einem gewissen Peter Hiess. Der folgte dem Angebot des amerikanischen Autors Jeff VanderMeer, ihm ein paar Daten aus seinem Leben sowie einige Dollars zu übersenden - und nun findet er sich als einer der Protagonisten in dem wunderschönen Short-story-Band "Secret Lives" wieder.
Jeff VanderMeer, falls den jemand absurderweise nicht kennen sollte, ist der Verfasser des großartigen Werkes "Stadt der Heiligen und Verrückten" (2005 in dt. Sprache bei Klett-Cotta erschienen), einer Sammlung von Geschichten, Pseudo-Sachtexten und erfundenen Biographien aus der fiktiven Stadt Ambra, die ihren Erfinder als Meister des "Slipstream"-Genres - also nicht ganz Phantastik, eine Menge Surrealismus und immer zwischen allen Stühlen - ausweisen. Zusammen mit seiner Frau hat er auch eine Anthologie namens "Steampunk" herausgegeben, die ebenfalls erforschenswert ist. Und jetzt schenkt er neugierigen Lesern eben ein ganz privates "Geheimes Leben", das naturgemäß um einiges interessanter ist als ihr angeblich reales. (Das gilt übrigens auch für besagten Hiess.)
Sie sind zwar zu spät dran, um von VanderMeer auch eine Geheimexistenz spendiert zu bekommen, aber Sie können die "Secret Lives" (Prime Books) der anderen wenigstens nachlesen und sich weiterhin wünschen, eine Romanfigur zu sein. Vielleicht gibt es ja irgendwo, irgendwann einen Schriftsteller, der sich Ihrer annimmt. Wenn nicht, erfinden Sie sich einfach einen …
PS: Bestellen Sie "Secret Lives" - bitte! - beim ehrenwerten Buchhändler Mark Ziesing. Der hat da nämlich auch seine Finger mit drin.
Dr. Trash
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