Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Gewissenslücke

Dr. Trash empfiehlt: Entsagen Sie dem bequemen Online-Handel und dem Kreditkartenunwesen - vor allem, wenn Sie sich das richtige Lesen erst erarbeiten müssen. Es geht doch nichts über einen real vorhandenen Buchhändler, der die literarische Ausbildung übernimmt, das Verlagswesen kennt und den Geschmack bildet. Auch der Doc hat den Umgang mit Büchern so erlernt. Und das fällt ihm erst jetzt wieder ein ...    17.09.2008

Na bitte, jetzt ist es soweit: Der Doc hat ein schlechtes Gewissen.

"Geh, Blödsinn!" wird jetzt der unbekannte Leser denken. "Der alte Trash und ein Gewissen - noch dazu ein schlechtes. Kann ich mir nicht vorstellen ..."

Ist aber so. Während andere sich mit Frühlingsgefühlen quälen, entwickelt der bedauernswerte Doktor so um Anfang Mai Emotionen für die Welt und den Mitmenschen, im allgemeinen wie im speziellen.

Der spezielle Fall, von dem hier berichtet werden soll, ist ein Wiener Buchhändler. Vergangene Woche ist der Doc dem Mann zufällig über den Weg gelaufen - seinem lieben ehemaligen Mentor in Sachen Literatur, Verlagswesen, bibliophile Ausgaben und Charakterbildung. Sie müssen nämlich wissen: Auch der Privatgelehrte war einmal jung und ging als Privatlernender durchs Leben. Bildungshungrig wollte er das, was er im Radio gehört, im Fernsehen gesehen und dank zahlreicher Besuche in der Leihbibliothek gelesen hatte, selbst verifizieren und festigen. Er streifte durch die reale Welt (damals war ja vom Internet noch keine Rede, sowas wäre nicht einmal Science-Fiction-Autoren eingefallen, wenigstens den meisten ...) und suchte nach Information.

Da kam der Buchhändler gerade recht.

Eigentlich war ja der Plattenhändler schuld, der dem Doc die Welt der Jazz- und Avantgarde-Musik nahegebracht hatte. Der schleppte ihn in die alles entscheidende Buchhandlung und gab ihn dort mit den Worten ab: "Das ist der junge Doc - lern ihm lesen."

Genau dieser Aufgabe nahm sich der Buchhändler in bemerkenswerter Weise an: Er formte einen durch Heftromane, Absurdes Theater und eine Überdosis Existentialismus verwirrten Geist zu einer Hieb- und Stichwaffe - mit Hilfe genau dosierter Portionen aus Schwarzer Romantik, Dadaismus, Surrealismus, ’Pataphysik, Suhrkamp-Verstiegenheiten und literarischen Klassikern; eben all den Dingen, die man gelesen haben mußte, wenn man so werden wollte wie Dr. Trash.

Und das ist genau der Grund, warum man Buchhändler braucht, warum sie trotz amazon und Kultursupermarkt bis heute unverzichtbar sind, warum auch der wohlmeinende Bibliothekar oder Deutschlehrer sie nicht ersetzen kann. Der Doc, der jahre- und jahrzehntelang seine Bücher immer direkt vom Verlag oder gleich per Datenleitung aus fernen Landen bezogen hat, weiß das alles - er hat es nur verdrängt. Und als ihm sein alter Buchhändler wieder über den Weg lief, packte ihn halt das Gewissen.

So, jetzt kennen Sie die Geschichte. Lernen Sie daraus und machen Sie nicht denselben Fehler. Und wenn Sie gerade keinen guten Buchhändler zur Hand haben, gehen Sie zu dem Ihres Doktors: Reinhold Posch, Lerchenfelder Straße 91–93, 1070 Wien. Er wird Sie gut behandeln.

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Links:

Kommentare_

Print
Klaus Ferentschik - Ebenbild

Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 42

Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 40

Weana Madln 2.0

Treffen der Giganten: Der "Depeschen"-Kolumnist diskutiert mit dem legendären Dr. Trash die Wiener Weiblichkeit von heute. Und zwar bei einem Doppelliter Gin-Tonic ... weil man sowas nüchtern nicht aushält.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 39

Der Tag der Unruhe

Unser Kolumnist läßt sich von Fernando Pessoa inspirieren und stellt bei seinen Großstadtspaziergängen Beobachtungen an, die von ganz weit draußen kommen. Dort wirkt nämlich selbst das Weihnachtsfest noch richtig friedlich.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.