Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Bombensongs
Dr. Trash empfiehlt: Beugen Sie sich nicht dem Aktualitätszwang. Selbst das, was vor Jahren - vier, um genau zu sein - in seiner "Buchkultur"-Kolumne als brandneu daherkam, ist noch heute mehr als nur empfehlenswert. Vorausgesetzt, Sie kriegen es irgendwo ...
30.05.2007
Überraschung, liebe Kinder!
Der Doc hat nicht nur ausnahmsweise seine Datenzentrale verlassen, sondern sogar den Wohnbezirk. Weil er nämlich ins (angeblich) befreundete Ausland gereist ist, zur Weiterbildung. Auch im Zeitalter der Elektropost sollte man manchmal die Bürde auf sich nehmen, Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und ihre Arbeitsstätten zu studieren.
Zum Beispiel in Bonn: Dort wohnt und wirkt - wenn sie nicht gerade im Beat-Exil Tanger weilt - Pociao alias Sylvia de Hollanda, die hauptberuflich als Übersetzerin (u. a. von Paul Bowles, Frances Fyfield und Robert Anton Wilson) tätig ist. Da man aber in der Lohnknechtschaft bekanntlich nicht glücklich wird, gab es daneben immer auch Eigenverlagstätigkeit (Expanded Media Editions) und früher sogar einen Vertrieb für hochwertige literarische Abseitigkeiten (Pociao´s Books). Da wurden junge, unschuldige Menschen, wie auch Ihr Doktor einst einer war, mit Burroughs, Bukowski und Gysin verdorben und auf ein Leben im geistigen Exil vorbereitet. Wie es sich gehört.
Trotz der dürren Jahre in der Verlagsbranche hat Pociao ihr Wirken nicht aufgegeben, sondern sich auf die neue Zeit eingestellt. Ihr aktuelles Projekt heißt Sans Soleil ("things that make your heart beat faster: music & literature") und befaßt sich neben dem gedruckten Wort auch mit exklusiven Hörbüchern. Von denen durfte der Doc nach der gemütlichen Kaffeejause im Garten, direkt neben der Bahnstrecke, gleich zwei mit nach Hause nehmen.
"Bombsong" ist das CD-Dokument einer Performance der deutschen Krimischreiberin Thea Dorn und der Nicht-mehr-nur-Underground-Musikerin Ulrike Haage. Ganz weit weg von bis zum Überdruß bekannten "Literatur & Musik"-Schmonzetten liefern die beiden Damen hier Kunstware, bei der Positivdenker Magengeschwüre bekommen dürften: "auf meiner ersten u-bahn-fahrt habe ich gelernt dass ich die menschen hasse/die dicken die schwitzenden die stinkenden die lachenden die lauten die/dumpfen die erloschenen die mütter mit ihren kindern die kinder mit ihren/müttern die kinder mit anderen kindern die männer ohne arbeit die männer mit/weißen socken die frauen ohne kraft mit zuviel wellen im haar/als ich das erste mal u-bahn gefahren bin/da hab ich mir zum ersten mal gewünscht/das alles wegzumachen/da hab ich zum ersten mal die bombe gesehen."
Ja, das kann und soll man so sagen.
Der zweite Tonträger heißt "Last Words" und ist die gelungene Hörspielumsetzung der letzten Tagebücher des großen William S. Burroughs, die bei Sans Soleil auch in Buchform vorliegen. Aber das finden Sie am besten selbst heraus - und bestellen sofort!
Dr. Trash
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