Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Meistersinger

Dr. Trash empfiehlt: Machen Sie einen großen akustischen Umweg um das gemeine Hörbuch. Sie sparen damit keine Zeit, sondern lassen sich vielmehr wertvolle Denk- und Lesezeit stehlen. Wer gedruckte Inhalte nicht selber versteht, braucht sich höchstens das Alphabet vortragen zu lassen und so die Volksschule nachzuholen. Der Rest erfreut sich an Vogelkonzerten.    29.07.2013

Das schnelle Lesen ist ein Fluch.

Nicht etwa, weil dabei weniger hängenbliebe, das stört ja keinen großen Geist. Selbst bei rapidem Lesetempo merkt man sich die wichtigen Sachen sowieso (oder macht sich gleich eine Notiz auf einem Zettel beziehungsweise - wie das studierte Volk - am Seitenrand); das Unwichtige, Banale, das literarische Füllmaterial hingegen gerät bei Schnellesern noch geschwinder in eine für alle Beteiligten gnädige Vergessenheit. Und so soll es ja auch sein.

Jedenfalls: Was das eilige Lesen, ohne gleichzeitiges Mitbewegen der Lippen, wie es bei Sekundär/Handy-Analphabeten üblich ist, für mich so zum Fluch macht, ist die Tatsache, daß ich nicht mehr zuhören kann, wenn mir wer anderer vorliest. Schon bei Lesungen muß ich (wenn ich nicht als vortragender Doktor vorne am Pult stehe) mich bemühen, nicht ungeduldig mit der Hand aufs Hinterhaupt des Vordermanns oder ein anderes Stück Holz zu klopfen und dabei auszurufen: "Ja, JAAA, wir haben’s schon begriffen. Beeilung!" Aber man hat ja Manieren. Irgendwo jedenfalls, ich müßte jetzt nachschauen ...

Schaffe ich es bei Live-Anlässen noch gelegentlich, meine notorische Ungeduld hintanzuhalten, so gehen Hörbücher gar nicht. Keine Chance. Ich setze mich doch nicht zu Hause aufs Sofa und harre geduldig aus, während mir irgendein Piefke-Fernsehschauspieler (ja, es sind meistens Piefke) im Josefstadt-Tempo einen Krimi vorträgt, den ich noch vor dem Ende der ersten CD selber ausgelesen hätte! Und beim Autofahren (nie vergessen: Der Doc fährt nicht selbst, ist aber ein ebenso wegkundiger wie hysterischer Beifahrer) will ich mir gar nicht vorstellen, wie die Psychopathen und -innen am Steuer ihrer Mordmobile rundherum einem aktuellen Vampirromantik-Bestseller lauschen, statt Stopschilder zu beachten.

Nein. Hörbücher sind sicher eine gute Idee, aber das hat Gott bei der Erschaffung des Menschen am Anfang wahrscheinlich auch geglaubt ...

Dennoch will ich Ihnen ein hörbares Ding nicht vorenthalten, das mir in den vergangenen Wochen viel Freude bereitet hat. Das Autorentrio mit den klingenden Namen Jan Pedersen, Lars Svensson und Einhard Bezzel hat den Band Vogelstimmen. Unsere Vögel und ihr Gesang (Malik) verfaßt, den ich natürlich nicht lese (ich habe keine Freunde - schon gar nicht gefiederte), aber in Verblödungsphasen als akustische Lebenshilfe benütze: Einfach auf die rechts angebrachte Taste "Hier drücken - 150 Vögel hören!" draufhauen, und ich fühle mich wie in einem digital verfremdeten Wald.

Mein Rezept: als Unterstützung zu psychedelischen Substanzen dringend angeraten! Beten Sie 15 Vaterunser, schlafen Sie sich aus und kommen Sie in zwei Wochen zur Kontrolle.

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Links:

Kommentare_

hans langsteiner - 29.07.2013 : 13.59
Aber Herr Doktor! Haben wohl noch nie in ein Gert-Westphal-Hörbuch hineingehört?! Der macht selbst aus dem Telephonbuch ein Drama. Zum Autofahren eignet sich das wirklich nicht, da haben Herr Doktor völlig Recht!

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