Musik_CD-Tips der Woche

Aufstand durch Aufgabe

Bewegende Momente in der dieswöchigen Jukebox: Tocotronic geben auf, die Smashing Pumpkins gehen unter, und die Chemical Brothers machen einfach unbeirrt weiter.    06.07.2007

Manfred Prescher

Tocotronic - Kapitulation

ØØØØØ

Universal Music (D 2007)


Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail haben mich ziemlich erschreckt: Als ich hörte, daß die achte Tocotronic-Langspielplatte "Kapitulation" heißen würde, dachte ich doch tatsächlich, daß sie vor der nie versiegenden Blödheit der digitalisierten Massen klein beigeben und in einem depressiven Schwanengesang verschwinden würden.

Doch das Gegenteil ist der Fall: "Kapitulation" ist harmonischer, freundlicher und auf den ersten Ton zugänglicher als die glorreichen sieben Vorgänger. Gleichzeitig sind die Texte aber noch verschwurbelter und verklausulierter. Vielleicht gibt es dieses Aufgeben, von dem der Titel spricht, ja doch - und es mündet in einer "wall of words"; Worte, die nur darauf warten, gedeutet und damit präzisiert zu werden. War der intellektuelle Großbürger-Punk von Tocotronic bislang doch immer auch an der Oberfläche schon irgendwie politisch, muß dieses Mal der übergeordnete Sinn von den Standpunkten des Privaten aus deduziert werden.

"Mein Ruin" oder "Verschwör dich gegen dich" sind genau diese Lieder, die von Lowtzow "Aus meiner Festung" heraus schreibt. Wenn er seine stabile, persönliche Trutzburg nicht hätte, würde er vermutlich wirklich aufgeben. Stattdessen erklärt er, daß Individuen über spezifische, aber auf gemeinsame Ursprünge und Ursachen zurückführbare Einzelproblematiken definierbar sind. Aus dem "Ich" könnte daher leicht ein "Wir" werden, und "wir" ist ein dehnbarer Begriff, der "viele" umfaßt. "Wir sind viele" singen Tocotronic also.

Aber auch dem mit frischer Sehnsucht nach Harmonie und Einheit von eigenem Körper und Geist mit einer positiven Gesellschaft strebenden Lowtzow ist klar, daß ein Menschenauflauf noch nicht zwangsläufig einen Umsturz herbeiführt. Außerdem sagen uns die Hamburger wieder einmal nicht, wie sie sich die bessere Welt vorstellen. Aber das liegt daran, daß dies selbst die desillusionierte Vorstellungskraft eines Dirk v. L. übersteigt. Auf jeden Fall aber ist "Kapitulation" das musikalische Meisterstück des Trios. Wer nicht deuten will, soll also hören.

Links:

Smashing Pumpkins - Zeitgeist

ØØ

Warner (USA 2007)


Wenn das der Zeitgeist ist, den die Pumpkins hier auf ihrer Comeback-Platte beschwören, dann möchte man sich doch lieber mit Vergangenem oder Abseitigem beschäftigen. Denn seit Meat Loafs "Bat Out Of Hell" gab´s nicht mehr so viel schwülstigen Bombast - mit dem Unterschied, daß Jim Steinman die schlüssigeren Opern schreiben konnte. Schuld ist Billy Corgan, der früher, lax gesagt, schon mal besser drauf war und zu allem Überfluß auch noch mit dem Queen-Hausproduzenten Roy Thomas Baker angebandelt hat. Der überlagerte die ohnehin schon vergleichsweise mittelprächtigen Songs mit einer Vielzahl an Sound-Spuren und kleisterte die verbliebenen Ideen damit zu.

Schon bei "Rock im Park" war zu sehen, daß die neuen Pumpkins-Stücke bei den Fans einen eher zwiespältigen Eindruck hinterließen - und das, obwohl die Breitwand-Produktion eigentlich auf Stadiondimensionen und "Billboard"-Charts angelegt ist. Wer da "Ausverkauf!" ruft, könnte sogar recht haben. Dabei wäre es nur nötig gewesen, auf dem Erreichten aufzubauen und den Status zu erhalten. Das hätte jedoch bedeutet, daß man mehr Perlen wie das fein ziselierte, überaus luftige "Neverlost" und das ruhige und ausnahmsweise nicht überladene Kleinod "For God And Country" im eigenen Kreativmeer hätte finden und im Gegenzug auf Schweinerock wie "(Come On) Let´s Go" hätte verzichten müssen.

Links:

The Chemical Brothers - We Are The Night

ØØØ

EMI (GB 2007)


Unsere allerliebsten Staub-Brüder sind wieder da. Doch irgendwie scheinen sie von der Zeit etwas überholt worden zu sein. Was zur besten Zeit von The Prodigy, Fatboy Slim und den anderen Elektro-Gurus noch richtig modern und cool wirkte, langweilt momentan eher. Stillstand ist es allerdings nicht, was man Ed Simons und Tom Rowlands vorwerfen muß.

Sie blicken nämlich zurück nach vorn - aber wer sich nicht mehr für Bauhaus oder Cabaret Voltaire interessiert, weil er die Synthie-Ära für abgeschlossen hält, braucht sich auch nicht mit "Das Spiegel" (!) oder "Do It Again" einzulassen. Die Chemie der Brüder stimmt immer dann, wenn sie die typische Elektro-Grundstimmung verlassen, wie etwa im vergleichsweise fröhlichen "The Salmon Dance" oder in "All Rights Reversed", einem Gipfeltreffen mit Jamie Reynolds und seinen Klaxons. Absoluter Höhepunkt ist das finale "The Pills Won´t Help You Now", das mit texanischer Mithilfe von Midlake zu einem echten Meisterwerk geworden ist. Und weil das Allerbeste zum Schluß kommt, lohnt sich der Kauf von "We Are The Night" schließlich doch noch.

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