Stories_Reisebericht: Núcleo João Pinheiro/Brasilien, Pt. 1

"Wir hier in den Kolonien ..."

Eine junge Wiener Linguistin entdeckte eine bisher unbekannte deutsch-österreichische Sprachinsel in Minas Gerais. Grund genug für EVOLVER-Globetrotter Manfred Wieninger, den Rucksack zu schultern.    01.12.2008

Vom zentralen Busbahnhof der Acht-Millionen-Metropole Belo Horizonte habe ich gemeinsam mit der Wiener Sprachwissenschaftlerin Christiane M. Pabst den Bus nach Sete Lagoas genommen, das rund 120 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Minas Gerais liegt. Unser Ziel geht aber über die kleine Bezirksstadt weit hinaus: Es ist eine bisher unentdeckte, von der Wissenschaft noch nicht wahrgenommene und beschriebene deutsche Sprachinsel im mineirischen Hinterland, die ab 1906 von Deutschen und Österreichern besiedelt worden ist.

Nach dem zerfasernden, gleichsam nie endenwollenden Stadtrand geht die Fahrt über dünn besiedeltes Hügel- und Weideland. Minas Gerais ist der zweitbevölkerungsreichste Bundesstaat Brasiliens, doch außerhalb von Belo Horizonte, wo die überwiegende Mehrheit der Mineiros lebt, kann man ganze Viertelstunden aus dem Fenster des fahrenden Überlandbusses blicken, ohne einer Spur menschlicher Besiedlung gewahr zu werden. Man sieht nur tiefrote Erde und das grüne, wellige Meer der serras, in dem vereinzelt Palmen, weiße, halbwilde Rinder, Bananenstauden und Bambusinseln schwimmen. In Sete Lagoas engagiert Dr. Pabst einen Taxifahrer, der dank eines Aufpreises bereit ist, uns ins tiefste Hinterland - zur Sprachinsel Núcleo João Pinheiro - zu bringen, obwohl er sich der schlechten Straßen wegen einige Sorgen um sein Fahrzeug macht.

 

Núcleo João Pinheiro: Hauptplatz mit ehemaliger deutscher Schule

 

Zu Beginn ihres zweijährigen Postdoktorats in Allgemeiner Linguistik an der Universidade Federal de Minas Gerais in Belo Horizonte begleitete Christiane M. Pabst eine Gruppe von Naturwissenschaftlern, die Feldforschung über von Wasserschnecken übertragene Krankheiten betrieb, ins subtropische Hinterland und stieß dabei auf den Núcleo João Pinheiro, eine etwa 40 Quadratkilometer große Siedlung bzw. Gemeinschaft im Bezirk Funilândia, in der zahlreiche Nachkommen von Einwanderern aus Deutschland und Österreich leben, die im wesentlichen ihre alte Sprache und Kultur noch bewahrt haben.

"Die Siedlung wurde 1906 auf Initiative des damaligen governadors, das heißt Landeshauptmanns Dr. João Pinheiro da Silva gegründet und trägt bis heute seinen Namen. Jede der 350 Kolonistenfamilien, die vor allem von 1906 bis 1909 ankamen, erhielt etwa 5000 Quadratmeter Land beziehungsweise Urwald, der zu roden war, ein einfaches Wohnhaus, ein Stück Ackerland, eine Kuh und einen Stier, Saatgut, 500 Réis Bargeld und einen Arbeiter, der die Siedler vor allem in die Landwirtschaft einzuführen hatte, da die meisten von ihnen aus Großstädten wie Berlin, Stuttgart, Wien und Hamburg stammten und wohl von Ackerbau und Viehzucht, noch dazu unter brasilianischen Bedingungen, nicht viel Ahnung hatten", erzählt die junge Sprachinselforscherin. "Ihre Nachfahren sind im wesentlichen bis heute Bauern geblieben, die vor allem Vieh- und Milchwirtschaft betreiben, aber auch erfolgreich Zuckerrohr, Mangos, Zitrusfrüchte und vieles andere mehr anbauen. So gelangen etwa die Mangos von einem meiner Gewährsmänner, Karl Hegemann, durch Zwischenhändler bis nach Rio de Janheiro, und der Zuckerrohrschnaps von Robert Flister wird ebenfalls über Zwischenhändler sogar bis nach Europa verkauft. Auch die Höfe sind inzwischen bedeutend größer geworden; manche könnten die Größe ihres Grundbesitzes nicht einmal genau angeben, weil die Grenzen oft in unwegsamem Gelände liegen."

 

Fazenda (Bauernhof) von Ilse Flister im Núcleo João Pinheiro

 

Auf der langen Fahrt von Sete Lagoas zur Sprachinsel kommt uns in ungefähr eineinhalb Stunden nur ein einziges Fahrzeug entgegen - ein mit Zuckerrohr vollbeladener, uralter amerikanischer Lastwagen. Auch werden wir von keinem Auto überholt, obwohl unser Taxifahrer mit geringer Geschwindigkeit und großer Vorsicht die holprigen Landstraßen bewältigt. Das Ortschild "Núcleo João Pinheiro" übersehe ich, nicht nur, weil hohes, afrikanisches Gras, das hier schon in den dreißiger Jahren als Viehweide angebaut worden ist, es fast vollkommen verdeckt, sondern weil meine Augen durch die Betrachtung der einförmigen mineirischen Hügellandschaft, des grünen Meeres der Berge - mar de montanhas - einigermaßen ermüdet sind.

Hinter dem Schild ist auch die Ortschaft, eingebettet in eine üppige Vegetation, kaum zu entdecken. Erst als wir an dem gar nicht so kleinen quadratischen Dorfplatz mit einigen hohen Bäumen angekommen sind, halte ich es für möglich, daß hier einige hundert Menschen leben, wenn auch weit verstreut. "Rund um diesen Dorfplatz, dessen Bäume noch von den ersten Kolonisten gepflanzt worden sind, haben die deutschen und österreichischen Siedler auch öffentliche Gebäude errichtet. Zum Beispiel eine Schule, in der bis Mitte des 20. Jahrhunderts Unterricht in deutscher Sprache abgehalten worden ist und die heute von einer Familie bewohnt wird, einen Dorfkotter und eine evangelische Kirche, die allerdings beide inzwischen abgerissen wurden", erklärt Christiane M. Pabst. Es ist eine soziologische Besonderheit dieser Sprachinsel, daß die deutsch-österreichischen Kolonisten praktisch allesamt evangelisch waren. Eine gewisse, eben religiös begründete Isolation im tiefkatholischen, brasilianischen Umfeld ist sicherlich auch der Grund dafür gewesen, daß die Sprachinsel bisher als solche überlebt hat.

 

Christiane M. Pabst im Gespräch mit Ilse Flister (vor deren typisch mineirischen Küchenofen)

 

"Grüß eich!" begrüßt uns gutgelaunt Ilse Flister auf dem Dorfplatz. Sie ist eine etwa sechzigjährige, dunkelblonde, braungebrannte Frau in Jeans und einer bunten Bluse. Senhora Ilse ist vielleicht so etwas wie die Seele dieser Sprachinsel - oder, anders ausgedrückt, ihr kommunikativer Mittelpunkt, mit Kontakten und Verbindungen zu praktisch allen circa 400 bis 500 Mitgliedern der deutsch-österreichischen Gemeinschaft im Núcleo João Pinheiro. Sie wird uns in den nächsten Tagen nicht nur beherbergen, sondern mit ihrem uralten Kleinwagen auch durch die Sprachinsel chauffieren, da kein Taxifahrer Brasiliens seinem Wagen die desaströsen Straßenverhältnisse vor Ort antun würde. Eine Fahrschule hat Ilse Flister allerdings nie besucht und auch niemals so etwas wie eine Fahrprüfung absolviert. Trotzdem lenkt sie ihren uralten Kleinwagen couragiert über ausgewaschene Feldwege, löchrige Pisten und fragile Holzbrückchen über den Fluß Rio vermelho, den die Sprachinselbewohner als Bacherl oder den kleinen Rio bezeichnen, obwohl er in der Regenzeit oft den halben Núcleo João Pinheiro überschwemmt und die Einwohner dazu zwingt, tage- und wochenlang in ihren Häusern auszuharren.

 

Fazenda von Senhora Ilse

 

"Wir leben hier bis heute ein bisserl deutsch. Wir sind da schon anders. Da wundern sich die Brasilianer manchmal, weil wir viel anders machen. Zum Beispiel gekochte Eier essen und Schweinebraten", erzählt während der Fahrt Senhora Ilse, deren Vater aus Berlin und deren Mutter aus einer Stadt in der Nähe von Stuttgart stammt. Ihr verstorbener Mann war wiederum der Sohn eines Österreichers und einer Böhmin. Diese vielfältigen sprachlichen Wurzeln vom Oberdeutschen bis zum Niederdeutschen, hat mir Pabst erklärt, sind typisch für viele Bewohner des Núcleo und haben zu einer spezifischen Ausgleichssprache geführt, deren Differenzierung die Sprachwissenschaftlerin derzeit soziolinguistisch untersucht.

 

Fortsetzung folgt ...

Lesen Sie im zweiten Teil des Reiseberichts über den informellen Bürgermeister der Sprachinselbewohner, überwältigende Gastfreundschaft und vergessene Kolonisten.

Manfred Wieninger

Minas Gerais

(Photos © Manfred Wieninger)


Das Gold des Sklavenkönigs

 

Warum sich die Berichterstattung über dieses Land meist auf Rio de Janeiro, Favelas, Karneval-Nackedeis, Drogenkriminalität und vielleicht noch ein wenig Fußball beschränkt, weiß kein Mensch. EVOLVER-Autor und Krimiexperte Manfred Wieninger erspart uns die üblichen Klischees und reist stattdessen ins Hinterland von Minas Gerais.

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