Stories_Reisebericht: Brasilien, Pt. 1

Das Gold des Sklavenkönigs

Warum sich die Berichterstattung über dieses Land meist auf Rio de Janeiro, Favelas, Karneval-Nackedeis, Drogenkriminalität und vielleicht noch ein wenig Fußball beschränkt, weiß kein Mensch. EVOLVER-Autor und Krimiexperte Manfred Wieninger erspart uns die üblichen Klischees und reist stattdessen ins Hinterland von Minas Gerais.    25.09.2008

Rhythmischer, gstanzelartiger, schneller Gesang aus Dutzenden jungen Kehlen, immer wieder angetrieben von wechselnden Stimmführern und Vorsängern und vor allem von einer stampfenden, wippenden, groovenden und natürlich ebenfalls lauthals mitsingenden Instrumentalgruppe, bestehend aus einer kleinen Hüfttrommel und drei birimbãos. Sänger und Zuschauer umringen in engstmöglicher Runde zwei kräftige Burschen in langen Trainingshosen und mit nackten Oberkörpern, die wie Gummibälle gegeneinander wirbeln, in extremen Pirouetten, akrobatischen Verrenkungen und kühnen Saltos gegeneinander ankämpfen. In den dramatischen Minuten des Kampfes scheinen sich die beiden Körper mehr in der Luft zu befinden als zumindest mit einem Bein auf der im 18. Jahrhundert von afrikanischen Sklaven mit großen, buckeligen, braunschwarzen Kieselsteinen gepflasterten Praça Tiradentes, dem Hauptplatz von Ouro Preto - barockes, urbanes Juwel im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais und von der UNESCO vor einigen Jahren zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt.

 

 

Praça Tiradentes, Hauptplatz von Ouro Preto.

 

Für mich als ahnungslosen Mitteleuropäer scheint das Ganze eine wilde Mischung aus Karate, russischem Ballett, Thaiboxen, Zirkusakrobatik und Turnen zu sein; für einen Brasilianer ist das Spektakel dagegen kein bloßer Tanz, kein Sport, keine Show, keine Touristenattraktion, sondern weit mehr als all das, nämlich eine Weltanschauung mit Namen capoeira.

Ursprünglich wohl ein Männlichkeitsritual afrikanischer Sklaven aus Bahia im Nordosten Brasiliens, hat sich der capoeira inzwischen über das ganze Land verbreitet und ist zu einer Art informeller Jugendbewegung geworden. Tausende Schulen und Vereine von Bahia bis Rio Grande de Sul im Süden lehren ihn, fast ebenso viele, wie es Fußballschulen im Land des oftmaligen Weltmeisters gibt. Was diesen Kampftanz dem brasilianischen Wesen so sehr angenähert hat, sind wohl vor allem zwei seiner fundamentalen Regeln. Erstens gilt: Wenn ein Kämpfer seinen Gegner mit einem Schlag oder Tritt trifft, ja auch nur versehentlich berührt, so hat der, von dem sozusagen die Gewaltausübung ausgegangen ist, automatisch verloren.

Gewalt mag in manchen Quartieren brasilianischer Großstädte so gewöhnlich sein wie Zuckerrohrschnaps, aber im Großteil des Riesenlandes sind die Menschen von Gewalttätigkeiten sowohl mental als auch tatsächlich sehr weit entfernt. Zweitens kommt es beim capoeira nicht nur darauf an, den Gegner durch atemberaubende Luftschläge, Finten, Akrobatik und Schattenboxen im wahrsten Sinne des Wortes umzuwerfen, also zu Boden zu zwingen, sondern alle Bewegungen eines Siegers, eines wahren rei de capoeira müssen auch von stilvoller, ja vollendeter Eleganz sein. Rohe Schnellkraft und noch so große Beweglichkeit allein genügen nicht. Das ist bei den Burschen am Hauptplatz von Ouro Preto nicht anders.

 

 

Inzwischen haben zwei weitere capoeirantes ihr Duell begonnen, und zwar mit der einleitenden, kurzen Imponierrunde, in der man seine Beweglichkeit zum Beispiel mit einem Salto rückwärts und seine Schlagkräftigkeit etwa mit einer Serie hoch eingesprungener Fußtritte demonstriert, um den Gegner damit gleich von Anfang an zu demoralisieren. Die Rhythmusgruppe groovt wieder - und zwar ziemlich genau auf jenen paar Quadratmetern, auf denen im April 1792 der Kopf des Tiradentes auf einer Stange aufgesteckt und zur Schau gestellt wurde zur Abschreckung aller Einwohner und Durchreisenden. Diese den Tänzern und Musikern natürlich bestens bekannte Tatsache verleiht dem capoeira auf der Praça Tiradentes einen besonderen, leicht makaberen Reiz.

Der Name Tiradentes sagt nämlich sicher nicht nur den capoeirantes von Ouro Preto etwas, sondern ist in Brasilien jedem Kind bekannt. Alljährlich wird der 21. April als nationaler Feiertag - als Tag des Tiradentes - begangen, womit an den 21. April 1792 erinnert wird. An diesem Tag wurde Joaquim José da Silva Xavier, genannt Tiradentes, nach seiner zeitweiligen Profession als "Zahnzieher", in Rio de Janeiro vom Henker der portugiesischen Königin erdrosselt und anschließend gevierteilt. Seine Körperviertel wurden in die großen Flüsse des Landes geworfen, sein Kopf auf dem weiten Landweg nach Ouro Preto, damals eine der bedeutendsten Städte Brasiliens, ja Südamerikas gebracht. Das Haus des Tiradentes in Ouro Preto wurde anschließend dem Erdboden gleichgemacht und das Grundstück mit Salz bedeckt, auf daß nie mehr etwas auf ihm wachsen möge.

Da Silva Xavier war die Zentralgestalt der ersten brasilianischen Unabhängigkeitsbewegung, in der sich ab 1789 die führenden Schichten des heutigen brasilianischen Bundesstaates Minas Gerais gegen die portugiesische Krone verschworen. Als Inconfidência Mineira, als Verrat von Minas, ist sie auf die ersten Seiten der brasilianischen Geschichtsbücher eingegangen. Wirtschaftlicher Hintergrund der Revolte war das allmähliche Versiegen der einst reichen Goldminen von Ouro Preto, ja, von ganz Minas Gerais, währenddessen die Steuerlasten, die Portugal seiner Kolonie aufbürdete, nicht verringert wurden. Die Aufständischen waren von einem der ihren verraten worden, bevor sie noch aktiv gegen die Kolonialbeamten der geisteskranken portugiesischen Königin Dona Maria I. vorgehen konnten. Tiradentes´ Mitverschwörer wurden nach Afrika deportiert oder zu lebenslänglichem Kerker verurteilt; er erhielt als einziger die Höchststrafe.

Geboren wurde der rebellische Zahnzieher in ärmlichen Verhältnissen auf einer fazenda unweit des Städtchens Vila de São José do Rio das Mortes, das 1882 zu seinen Ehren in Tiradentes umbenannt wurde - Tribut an Brasiliens ersten Nationalhelden. Des Tiradentes (der sich kurz vor seiner Verhaftung noch mit allen seinen companhereis in Ouro Preto konspirativ getroffen hatte, um über die Staatsform des künftigen unabhängigen Brasilien zu beratschlagen) größter Triumph ist aber wohl die Tatsache, daß das die Praça Tiradentes dominierende Rathaus und Gerichtsgebäude, von dem einst die Verhaftung der Rebellen ausgegangen ist, heute das Museu da Inconfidência beherbergt. 1942 wurden darin die verbliebenen sterblichen Überreste von Tiradentes´ Mitverschwörern in einem Pantheon beigesetzt.

 

Fortsetzung folgt ...

 

Lesen Sie im zweiten Teil des Reiseberichts über Banditen, den großen Goldrausch, Rudolfo den Taxifahrer und viele andere wunderbare Dinge.

Manfred Wieninger

Minas Gerais

(Photos © Manfred Wieninger)

Links:

"Wir haben nicht viel Gold, aber viel Kunst!"

Reisebericht: Brasilien, Pt. 2 (Update 3. 10. 2008)


Nach der ersten Folge über capoeirantes, Verrat und Revolten berichtet EVOLVER-Autor und Krimiexperte Manfred Wieninger im zweiten Teil seiner Ouro-Preto-Story von Sklavenkirchen, Edelsteinschleifern und Rudolfo, dem Taxifahrer.

Links:

Kommentare_

flight - 27.10.2008 : 22.17
wann kommt der zweite Teil denn?
und vielen Dank für den Artikel, ist echt lesenswert!
Andreas Rathmann - 09.03.2009 : 16.36
Bei der Lektüre Ihres Artikels und der Begutachtung der Fotos musste ich an eine Reportage über Oscar Niemeyer denken, die ich zufälligerweise auch in einem Hotel in Brasilia gesehen habe. Ein Historiker sprach davon, wie bemerkenswert die Begeisterung der Brasilianer für Kolonialarchitektur ist. Nicht wenige bezeichnen ja Orte wie Ouro Preto oder Paraty als das Nonplusultra in Sachen Eleganz und Schönheit, erst Architekten wie Niemeyer rissen auf radikale Weise diese Tradition nieder, um eine völlig neue Definition brasilianischer Baukunst zu liefern. Aber nicht weniger interessant ist es, wie sich eine einstige Goldfestung wie Ouro Preto heute zu einer der größten Studentenstädte des Landes gemausert hat, in der jedes Jahr ein fantastischer Karneval stattfindet. Der Begriff der Moderne scheint sich eben nicht nur auf geschwungene Formen aus weißem Beton zu beschränken.
Brasilien - 11.03.2009 : 22.13
wo finde ich denn den zweiten Teil? Der erste Teil ist ja schon sehr interessant, ich würde gerne mehr erfahren;-)
die Redaktion - 11.03.2009 : 22.17
Aber der Link zu Teil zwei steht doch eh deutlich da, unterhalb der Story, oberhalb der Kommentare!
Tuning - 20.05.2009 : 05.12
Das ist mal eine ganz andere Seite. Kannte ich bisher noch nicht. Normalerweise liest man wie in der Überschirft schon gesagt mehr über Drogen, Fussball und Gewalt.

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