Stories_Reisebericht: Brasilien, Pt. 2

"Wir haben nicht viel Gold, aber viel Kunst!"

Nach der ersten Folge über capoeirantes, Verrat und Revolten berichtet EVOLVER-Autor und Krimiexperte Manfred Wieninger im zweiten Teil seiner Ouro-Preto-Story von Sklavenkirchen, Edelsteinschleifern und Rudolfo, dem Taxifahrer.    03.10.2008

Von der rodoviária, dem zentralen Busbahnhof der Millionen-Metropole Belo Horizonte, nehme ich den Direktbus nach Ouro Preto - rund 100 Kilometer südöstlich der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais. Der Preis für das Ticket ist überraschend niedrig. Trotzdem bietet der executivo, das ist der Überlandbus erster Klasse, überaus bequeme Liegesessel, viel Beinfreiheit, ein sauberes WC an Bord und gratis Kaffee sowie jede Menge Mineralwasser. Den Fahrpreis für den noch billigeren ônibus público ins Interior müssen nicht wenige Einheimische auf Kredit aufnehmen, in der rodoviária von Belo Horizonte gibt es gleich mehrere kleine Bankschalter, deren Geschäftsfeld vor allem ebendies ausmacht. Einlaß in den executivo erhält man nur mit Fahrschein und Personalausweis, die Abfahrt erfolgt überpünktlich. Schließlich sind die Mineiros, die Einwohner von Minas Gerais, als Preußen Brasiliens bekannt, das heißt, für ihre Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit (aber auch für ihren Geiz, ihre Verschwiegenheit und Emotionslosigkeit sowie dafür, daß sie in geradezu unbrasilianischer Weise Regeln und Gesetze überzuerfüllen trachten).

Nach dem zerfasernden, gleichsam nie endenwollenden Stadtrand von Belo Horizonte führt die Reise über dünn besiedeltes Hügel- und Weideland.

 

 

Der Bundesstaat Minas Gerais ist der zweitbevölkerungsreichste Brasiliens, aber außerhalb der hauptstädtischen Metropole Belo Horizonte, in der die überwiegende Mehrheit der Mineiros lebt, kann man ganze Viertelstunden aus dem Fenster des fahrenden Überlandbusses blicken, ohne einer Spur menschlicher Besiedlung gewahr zu werden. Man sieht nur rote Erde und das grüne, wellige Meer der serras, in dem vereinzelt Palmen, weiße halbwilde Rinder, Bananenstauden und Bambusinseln schwimmen. Die seltenen Ansiedlungen kündigen sich durch von der Straßenverwaltung listig angebrachte quebra-molas an, beeindruckende Straßenschwellen (im Volksmund "Achsenbrecher" genannt), über die man tatsächlich bei Strafe des Achsbruches nur einmal ungebremst dahinbraust.

Direkt neben dem Busbahnhof von Ouro Preto stärke ich mich in einem Beisl mit gegrilltem, in mundfertige Happen geschnittenen Rindfleisch, Reis und dem typischen Bohneneintopf feijoada, der nicht nur aus schwarzen Bohnen, sondern auch aus Ohren, Rüssel, Schwänzchen und Füßchen vom Schwein und der Schweinsschinkenwurst paio besteht. Dazu gibt es noch farofa, das sind geröstete Maniokbrösel mit Speck, Grammeln, Zwiebel, Knoblauch und zerkleinerten harten Eiern, sowie vinagrete, das ist kleinwürfelig geschnittenes Gemüse in Essig. Alles in allem war das früher ein Essen für die Schwerarbeiter in den Minen des Bergwerkstaates Minas Gerais - was soviel wie "Allgemeine Minen" heißt - und ist heute das minerische Nationalgericht.

 

Rudolfo, der Taxifahrer, der mich von der rodoviária von Ouro Preto zur Praça Tiradentes in der Stadtmitte bringt, dokumentiert seine etwas andere, durch und durch brasilianische Religiosität durch einen unübersehbaren Aufkleber auf der Windschutzscheibe der Beifahrerseite: Sou feliz porque sou católico - "Ich bin glücklich, weil ich katholisch bin." Welch ein Unterschied etwa zu einer österreichischen, ja vielleicht mitteleuropäischen Katholizität, für die man den Aufkleber wohl radikal umtexten müßte: "Ich bin katholisch - laßt mich bloß mit meinem Elend allein."

 

Edelsteinschleiferin in Ouro Preto. Gold wird in und um Ouro Preto heutzutage kaum mehr gefunden, aber die Stadt gilt wegen der ausgesprochen reichen Halbedelstein- und Edelsteinfundstellen im Umland als Eldorado für Mineralogen und Mineraliensammler und besitzt eines der besten mineralogischen Museen Brasiliens. Der sogenannte Königstopas ist ein Edelstein, der nur in und um Ouro Preto vorkommt.

 

Nicht nur, was das barocke Straßenpflaster betrifft, ist Ouro Preto eine Zeitmaschine. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten bandeirantes, die gewalttätigen, meist von indianischen Müttern und portugiesischen Vätern abstammenden Kolonisatoren des fast unendlich weiten brasilianischen Hinterlandes, in den Hängen der serras um Ouro Preto Gold in rauhen Mengen entdeckt und von afrikanischen Sklaven abbauen lassen – der erste wirkliche Goldrausch des amerikanischen Kontinents. Die Nuggets saßen in der Regel in einem schwarzen Muttergestein; es war schwarzes Gold, Ouro Preto - und das durchaus in einem doppelten Sinn, wenn man an die in den Minen schuftenden Sklavenarbeiter denkt.

Einem von ihnen, Chico Rei, gelang es, mit Hilfe eines außergewöhnlich großen, vor seinem Herrn geschickt verborgenen Nuggets sich selbst, seinen Sohn Osmar und viele seiner Stammesgenossen freizukaufen - ein Kunststück, das bis dahin noch kein Sklave in Brasilien geschafft hatte. Chico, der in seiner afrikanischen Heimat bereits ein Herrscher - Galanda, der König des Kongo - gewesen war, schaffte es in der Folge, eine eigene Goldmine zu erwerben. Von den reichen Erträgen hielt er als Sklavenkönig regelrecht Hof und feierte in afrikanischer Tracht die afrikanischen Feste, wie sie eben fielen. Das rief den Neid und den Widerstand des weißen Establishments von Ouro Preto hervor, das daraufhin beim portugiesischen König ein offizielles Verbot weiterer Sklavenfreilassungen erwirkte. Bald darauf verschwand auch der Sklavenkönig spurlos. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er von den weißen Herrenmenschen beseitigt wurde.

Von weiteren verborgenen Schätzen Chico Reis bauten Freigelassene ab 1715 fast das ganze 18. Jahrhundert hindurch an der Capela do Rosário dos Pretos, an der Kapelle vom Rosenkranz der Schwarzen. Errichtet wurde das stolze Werk pikanterweise auf dem caquende von Ouro Preto, dem Marktplatz für neu angebotene Sklaven, Umschlagplatz für frische Ware aus Afrika. Erst 1791 konnte die Fassade des Kirchleins nach dem Vorbild des italienischen Barock komplett fertiggestellt werden.

Bevor die Capela do Rosário dos Pretos einigermaßen aufgerichtet worden war, beschränkte sich das religiöse Leben der Schwarzen auf die von den weißen Bergwerksbesitzern im Sinne einer kolonialen Apartheid errichtete Sklavenkirche Capela de Santa Efigênia. Deren Bauplatz lag zwar weit außerhalb des Stadtzentrums, aber nicht außerhalb der Reichweite der Kanonen des Gouverneurspalasts. Bei den Errichtungskosten wurde von den weißen Bauherren natürlich konsequent gespart. So befand sich etwa der Pfarrfriedhof unter den Brettern des Kirchenbodens, und vom Kirchenschiff zur Kanzel gibt es bis heute keinen Aufgang, nur eine Scheintür, hinter der einen keine Treppe, sondern nur eine rohe Ziegelwand erwartet. Später wurden platzsparende Schachtgräber in einer Felswand hinter der Kirche gestattet, wobei es durchaus noch Schlimmeres gab: Im nahen Belo Horizonte durften zu der Zeit Juden nur stehend begraben werden. Auch bei der in Ouro Preto absolut üblichen, überreichen Vergoldung des barocken Kircheninterieurs - allein für die Blattvergoldung des Innenraums der Igreja Nossa Senhora do Pilar verwendete man mehr als 400 Kilogramm des kostbaren Edelmetalls - wurde von den weißen Bauherren eisern gespart.

"Wir haben nicht viel Gold, aber viel Kunst!" sagt heute ein wenig traurig, aber auch irgendwie stolz Edson, der alte, grauhaarige Kirchendiener, und weist uns bei seiner Führung besonders eindringlich auf die vier schwarzen Heiligenstatuen hin, die es in der jetzigen Igreja Matriz Santa Efigênia gibt: den afrikanischen São Benedikt und São Antonio de Note auf Seitenaltären und São Bon sowie Santa Efígênia auf dem Hauptaltar. Die heilige Efigênia wird übrigens räumlich gesehen von einer großen weißen Muttergottes über ihr beherrscht, wie überhaupt die allermeisten Heiligenfiguren in der Sklavenkirche weiß sind. Auf dem zentralen Deckengemälde findet sich allerdings alles überragend eine Darstellung des Papa Negro im purpurroten Ornat - als Ausdruck der Hoffnung, daß einmal ein Schwarzer Papst werden möge.

Unbemerkt von den weißen Bauherren entstanden im Zuge der Innenraumgestaltung durch anonyme einheimische Künstler auch Objekte eines zweiten Kultes neben dem katholischen. Beispielsweise sind die hohen Sockel der Kirchenaltäre in dieser igreja de escravos – Sklavenkirche, wie sie heute noch genannt wird - von kunstvollem, durchbrochenem Schnitzwerk umkleidet, das einerseits fast schon islamisch-ornamental wirkt, andererseits neben diversen Schlingungen, Gittern und Ranken seltsame Darstellungen von Muscheln, Garnelen und Schnecken aufweist. In der sakralen Kunst von Minas Gerais sind diese Schnitzerein jedenfalls einzigartig und bis heute nicht deutbar.

 

Die Capela de Santa Efigênia in Ouro Preto (heute Igreja Matriz Santa Efigênia, also nicht mehr nur eine Kapelle, sondern zur Pfarrkirche erhoben) wird noch immer fast ausschließlich von schwarzen Katholiken und Kirchgängern aufgesucht.

 

 

Ein Fünftel, der sogenannte quinto, des in und um Ouro Preto geförderten Goldes ging das ganze 18. Jahrhundert hindurch - auf der Estrada Real, dem Königsweg von Ouro Preto nach Rio de Janeiro und dann per Schiff weiter nach Europa - an die portugiesische Krone. Der Rest genügte aber, um Ouro Preto zu einem weltweit einmaligen, barocken Gesamtkunstwerk zu machen. Zu Zeiten Chico Reis und noch Jahrzehnte danach war die Bergwerksstadt wohl eine der bedeutendsten und prosperierendsten Metropolen der südlichen Hemisphäre. 1770 wurde hier etwa das erste Opernhaus Südamerika erbaut. Es steht übrigens heute noch und wird ambitioniert als Stadttheater weitergeführt. In dieser Zeit hatte New York knapp über 20.000, Ouro Preto jedoch schon fast 80.000 Einwohner.

Gekrönt wird Ouro Pretos, das kunsthistorisch unersetzliche Ensemble des minerischen Barocks, von sakralen Juwelen wie der Igreja de São Francisco des Assis oder der Capela da Ordem Terceira de São Francisco da Penitência, den vielleicht prächtigsten Barockkirchen Südamerikas unter Palmeiras Imperiais - allesamt Meisterwerke des bedeutendsten Barockarchitekten und -bildhauers Brasiliens, Antônio Francisco Lisboa, genannt o Aleijadinho, das Krüppelchen, der in Ouro Preto wohl die Mehrzahl seiner Hauptwerke schuf. Viele seiner Kirchen und Kapellen sind so schön, daß sie heute längst keine Pfarrkirchen mehr sind, sondern Museen. Der 1730 geborene Aleijadinho war der Sohn einer afrikanischen Sklavin und eines portugiesischen Architekten. An seine durch Lepra verkrüppelten Hände ließ er sich die Arbeitswerkzeuge des Bildhauers wie Meißel und Schnitzmesser, aber auch die des Architekten wie Bleistift und Zirkel festbinden und schuf auf diese mühevolle Weise Meisterwerke wie etwa zahlreiche, meist überlebensgroße Heiligenstatuen aus pedra sabão, dem Seifenstein, die zum Großartigsten gehören, was das lateinamerikanische Barock hervorgebracht hat.

 

 

Die Igreja Matriz Santa Efigênia, auch heute noch in Ouro Preto allgemein unter dem Namen Sklavenkirche - Igreja de escravos - bekannt, vom Stadtkern aus gesehen.

 

Für die Fassade der ersten Sklavenkirche steuerte der Superstar der damaligen Architektur- und Kunstszene von Minas Gerais übrigens der Überlieferung nach eine seiner großartigen Seifensteinfiguren bei. Es kann als sicher gelten, daß er von den weißen Bauherren dafür nicht angemessen honoriert worden ist ...

Manfred Wieninger

Das Gold des Sklavenkönigs

(Photos © Manfred Wieninger)


Warum sich die Berichterstattung über dieses Land meist auf Rio de Janeiro, Favelas, Karneval-Nackedeis, Drogenkriminalität und vielleicht noch ein wenig Fußball beschränkt, weiß kein Mensch. EVOLVER-Autor und Krimiexperte Manfred Wieninger erspart uns die üblichen Klischees und reist stattdessen ins Hinterland von Minas Gerais.

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CD- & Lesetip


Stan Getz & João Gilberto - The Carnegie Hall Concert. CD

 

Wenn es eine gültige Definition für "cool" gäbe, müßten João Gilberto, der feine, intelligente brasilianische Sänger, und Stan Getz, das New Yorker Saxophon-Genie, irgendwie darin vorkommen. Der Weltmusiker Gilberto gilt zu Recht als Zentralgestalt des Bossa Nova (der "Neuen Welle"), der kongenialen Fusion zwischen Samba und Jazz, die ab den späten 50er Jahren zuerst in Brasilien und dann in der ganzen Welt Furore machte. Ihr Konzert in der Carnegie Hall im Oktober 1964, das auf CD zu haben ist, enthält einige der leuchtendsten Perlen der kulturübergreifenden musikalischen Zusammenarbeit zwischen Getz & Gilberto. Alles in allem: Cool Jazz à la Brazil vom Feinsten!

 

Helmuth Taubald - Brasilien. Land der Extreme und Widersprüche

 

Den Dumont-Reiseführer von Helmuth Taubald sollte man gelesen haben, wenn man sich in diesem Riesenland mehr als bloß die Copacabana und ein paar Karneval-Nackedeis anschauen will. Brasilien ist schließlich keine Tabula rasa, sondern ein Land mit einer reichen und vielfältigen kulturellen Tradition. Der Führer bietet hierzu umfangreiche Hintergrundinformationen, aber natürlich auch Nützliches von Stadtplänen bis zu Hoteladressen - wie jeder andere Baedeker auch.

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