Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 3

Rammstein: "Stirb nicht vor mir"

Teutonische Kraftmeier treffen auf das vermeintlich Weibliche und lassen plötzlich statt der wilden Sau den sensiblen Prinzen raus. Manfred Prescher mag das Lied trotzdem.
   14.11.2005

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Erinnert sich irgendwer da draußen noch an Jennifer Rush? Der New Yorker Sängerin mit der von Clarence, dem schielenden Löwen aus "Daktari", abgekupferten Frisur konnte man in den frühen 80er Jahren nicht entgehen. Ihr "Fire And Ice" und "The Power Of Love", eine feminin umgesetzte Billigausgabe von Meat Loaf, tönten in den Toiletten von Kaufhäusern und beschleunigten so die Verrichtung, die Songs wuchteten sich aus den Autos der Corsa-Fahrerinnen und führten zu mancherlei kriegerischen Handlungen im zwischenmenschlichen Bereich. Irgendwie habe ich ja gehofft, die Zeit von Jennifer Rush wäre wirklich für immer und ewig vorbei. Aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt - und drittens wird die ganze Schmonzette im Jahre 2005 zu einer absoluten Farce, aber einer, die sich mit fieser Gewalt ihren Weg in die Gehörgänge bahnt.

 

Als Jennifer Rush in den Charts auftauchte, war von Rammstein noch weit und breit nichts zu hören. Selbst die Vorgänger-Bands Feeling B. oder First Arsch machten noch nicht die Beat-Klubs der DDR unsicher. Die Rush ist ein dauergewelltes Produkt der 80er, Rammstein eine Erfindung der 90er Jahre und des genialen Ex-Universal-Bosses Tim Renner. Von Anfang an wurde die Band auf Tabuverletzungen geeicht, auf das Ansprechen niederer Instinkte und auf Riefenstahl-Ästhetik. Der Sound, eine Druck-Variante von Kraftwerk, befahl - "links zwei drei" - mitzumarschieren. Dem konnte man sich oft nicht entziehen.

Was sie mit "Stirb nicht vor mir" tun, ist kein weiterer Tabubruch für die nach Skandalen gierende Öffentlichkeit. Dieses Mal müssen sich nur die Fans des Berliner Sextetts mit einem jahrzehnteübergreifenden Bastard herumärgern, der nur wenig "rammsteinig" ist. Man stelle sich also vor, daß Rammstein und Jennifer Rush ein Remake von "The Power Of Love" intonieren - und bekommt das zweisprachig gesungene

"Stirb nicht vor mir". Der kantige Kommißkopp-Baß von Till Lindemann trifft auf die Reinkarnation von Jennifer. Die heißt zwar in diesem Fall anders, nämlich Sharleen Spiteri, klingt aber wie das Fossil aus grauer Pop-Vorzeit.

Sharleen Spiteri ist das Aushängeschild der eigentlich recht passablen Band Texas. Wer in einer schottischen Gruppe singt, die sich nach dem amerikanischen Lone-Star-Bundesstaat benannt hat, der ist freilich auch in der Lage, für Lindemann die Rush zu machen, also mit dazu beizutragen, daß es zwischen den Geschlechtern dieses Mal friedlich bleibt. Die Band will schließlich mit dem Miststück Männlein wie Weiblein in ihren Bann ziehen, und wünscht sich, daß der Song sowohl aus dem Corsa als auch aus dem tiefergelegten Golf GTI dröhnt.

Lindemann schafft es mit seiner stoischen Art immerhin, daß das Lied nicht allzu schmalzig wird. Klar, denn dann würde sich der Fan mit Grausen abwenden und "Zerstören" oder "Mann gegen Mann" anwählen. Da weiß er auf jeden Fall, was er hat. Aber Rammstein halten die Grundspannung aufrecht: Wo bei der originalen Rush der billige Tchibo-Synthie aus der Melodie purzelt, gibt´s hier kernige Gitarren. Der Text ist freilich genauso schaurig wie die

"Kuschelrock"-Hymnen von anno dazumal: "I don´t know who he is/In my dreams he does exist/His passion is a kiss/And I can not resist". Warum das wohl so ist? Ich frag am Besten mal bei Jennifer nach: "Cuz I´m your lady and you are my man/Whenever you reach for me, I´m gonna do all that I can /We´re heading for something, somewhere I´ve never been/Sometimes I am frightened but I´m ready to learn - of the power of love".

Da sitz ich also staunend vor diesem Lied, wundere mich über die Unverfrorenheit, mit der Rammstein sich in musikalischen Abgründen wälzen und Zeilen wie "Ich weiß, daß irgendwann/Irgendwer mich liebt" singen, statt meinetwegen das Bett mal wieder brennen zu lassen - und kann mich dem Ding trotzdem nicht entziehen. Ich hoffe aber wenigstens noch, daß ich nicht sterben muß, bevor ich dieses Lied wieder ausgeschieden habe.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Rammstein und Spiteri im Web


 

Links:

Rammstein - Rosenrot


Universal Music (D 2005)

 

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