Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 6

Eminem: "When I´m Gone"

Eine Plaudertasche, deren Mix aus Wortkaskaden und Beat jeden in seinen Bann zieht: Manfred Prescher muß neidlos anerkennen, das das auch im x-ten Aufguß noch funktioniert.    05.12.2005

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Marshall Mathers hat´s nicht leicht - egal, ob er sich nun gerade Eminem oder Slim Shady nennt. Er hat sich nämlich auf die falsche Frau eingelassen. Und die will erstens nichts mehr von ihm wissen, zweitens nur an sein Geld und drittens auch noch den Beziehungskrieg fortsetzen. Im Mittelpunkt des Machtkampfs steht die gemeinsame Tochter Hailie - und die hat es ebenfalls nicht leicht, obwohl der berühmte und steinreiche Papa längst für viel Geld das Sorgerecht bei Ebay ersteigert hat. Spaß beiseite: Eminem konnte sich vor Gericht durchsetzen, wahrscheinlich gegen Höchstgebot.

Seit Hailie also bei Eminem wohnt, geht dieser brav auf Elternabende und gibt vor, sich in die Masse der normalen Erziehungsberechtigten einzureihen. Aber das wirkt vielleicht nur so, wenn er sich nach den Leistungen der Tochter erkundigt. Wahrscheinlich nicht mal dann. Ich stelle mir vor, wie die Lehrerin davon spricht, daß Hailie unaufmerksam ist und kein Interesse an Mathe oder Geschichte hat. Eminem ist dann sichtlich bestürzt, kramt seinen Notizblock unter dem Kapuzenpulli hervor und kritzelt wie im Fieberwahn Zeile um Zeile, will erklären, wie sehr er seine Tochter liebt, was er alles für sie tut, daß alles irgendwann gut wird und so weiter. Noch während er vor sich hin schreibt und den Flow der Worte aufs Papier perlen läßt, hat er auch schon den Beat dazu. Denn das Ganze wird ein weiterer Song auf dem Weg ins Guinness-Buch der Rekorde. Schließlich hat Eminem ein Ziel. Getreu dem Liedtitel "When I´m Gone" möchte er, wenn ihn dereinst der HipHop-Gott zu Tupac, Notorious BIG und den anderen holt, sagen können, daß nie ein Vater seinem Kinde mehr Worte hinterlassen hat. Und wenn schon irgendein anderer Daddy mehr geschrieben oder gedichtet haben sollte, dann muß wenigstens eines klar sein: Kein Mensch hat mehr Kohle gescheffelt, indem er seine persönlichen Katastrophen in aller Öffentlichkeit ausbreitete.

 

Uns fängt er mit dem Beat, den Dr. Dre wie immer so präzise um die Reimkaskaden herumbaut. Schon mit dem ersten Vers ist klar: Der Song wird ein Hit. Seit "Stan" funktionieren besonders die langsamen und mittelschnellen Beats gut. Der Unterschied: "Stan" erzählt eine böse Geschichte, die irgendwo zwischen Ice-T und frühem Dylan changiert. Doch mittlerweile schreibt sich Eminem für Hailie und ihr Erbe die Finger wund. Für ihr Erbe? Jawohl, genau dafür. Eminem mag zwar im Oktober erst 33 Jahre alt geworden sein - und das war wohl höchstens im finsteren Mittelalter für viele Menschen der Zeitpunkt, sich von dieser Welt zu verabschieden. Aber er denkt trotzdem schon daran, was er Hailie abzüglich Erbschaftssteuer hinterlassen wird. Lieder voll mit Geschwafel: "And when I´m gone, just carry on, don´t mourn /Rejoice every time you hear the sound of my voice/Just know that I´m looking down on you smiling /And I didn´t feel a thing, So baby don´t feel no pain /Just smile back".

Ähnliche Songs wie "Cleaning Out My Closet" oder "Mockingbird" blickten ebenfalls zurück in vergangene Zeiten, als er etwa mit der eigenen Mutter oder der von Hailie im Clinch lag. Aber Eminem war immer der zornige, virile und Multitasking-fähige Typ, der, während er Endreime suchte, seinen Feinden und Peinigern mit dem Baseballschläger den Scheitel gerade ziehen konnte. Nun tut er jedoch so, als sei er unheilbar krank und würde im nächsten oder übernächsten Moment den Löffel abgeben. So preßt er die Worte stärker und hektischer heraus, beinahe, als hätte er Angst, daß nicht alles gesagt werden könnte, bevor MC Grim Reaper vor der Tür steht.

Zu dieser Abrechnung eines scheinbar früh vergreisten Künstlers paßt, daß der neueste Song mit dem Beat nun schon wieder auf einer "Best Of"-Kompilation zu finden ist. Solche Zusammenstellungen werden meist dann auf den vorweihnachtlichen Markt geworfen, wenn eine Phase der Karriere eines Stars zu Ende geht oder wenn der Ruhm am Verblassen ist. Zu Eminem gehört aber auch noch sein Größenwahn, denn er bilanziert nicht nur sein bisheriges Leben, sondern schreibt sich einen Nachruf und unterstellt dabei sogar, wie Hailie auf seinen Tod reagieren wird: "Baby, Daddy ain´t leaving no more, 'Daddy you´re lying/You always say that, you always say this is the last time/But you ain´t leaving no more, Daddy you´re mine'/She´s piling boxes in front of the door trying to block it /'Daddy please, Daddy don't leave, Daddy - no stop it!'/Goes in her pocket, pulls out a tiny necklace locket/It´s got a picture, 'this´ll keep you safe Daddy, take it withcha' ". Pfuh, was für ein merkwürdiges Rührstück! Mich würde wirklich interessieren, wie Hailie mit solchen Zeilen umgeht. Vielleicht schreibt sie ja darüber, wenn Eminem wirklich "gone" ist? Wir hören derweil dieses Miststück der wirklich fiesen Sorte, denn es hat ja diesen typischen Beat.

"Where´s my snare?" fragte Eminem schon am Beginn seiner Laufbahn. Hier ist sie.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Eminem - Curtain Call - The Hits


Universal Music (USA 2005)

 

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