Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 7

Die Toten Hosen: "Der letzte Kuss"

Daß Johnny Thunders bald 15 Jahre unter der Erde liegt, dürfte an manchen Herrschaften vorbeigegangen sein. Bei dieser Nummer bleibt trotzdem die Armbanduhr stehen ...    12.12.2005

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Was Sitzpinkler sind, weiß jeder, oder? Für die, die den Begriff doch nicht kennen, will ich ihn kurz erklären. Männer lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: die, die im Stehen pinkeln und immer schön den Boden neben der Schüssel oder dem Urinal versauen, und dann die, die von ihrer Freundin oder der Gattin dazu konditioniert wurden, sich auf die Brille zu setzen und von dort aus - sauber und akkurat - loszustrahlen. Analog zu den beiden Pinklervarianten lassen sich auch Punks in Steh- bzw. Herumhüpf-Punks und Sitz-Punks einteilen.

Campino gehört mittlerweile zur letzteren, im Zuge der zunehmenden Vergreisung der Generation Sex Pistols wachsenden Gruppe. Zumindest, wenn er im Burgtheater auftreten darf. Dort erklärt er den Fans gleich zu Beginn, daß Hosen-Gigs zukünftig immer im Sitzen abgehalten werden. Das ist zwar schlecht für die Luftzirkulation beim Singen, verhindert aber, daß das alte Klappergestell in sich zusammenfällt. Außerdem paßt die Haltung auch eher zu Endzeit-Songs wie "Nur zu Besuch" oder

"Nichts bleibt für die Ewigkeit". Für den Spaß ist bei den Hosen schon länger Funny van Dannen zuständig, Campino dichtet ernsthafter und zusehends morbider. Wahrscheinlich fällt ihm beim Lesen der Traueranzeigen in der "Rheinischen Post" auf, daß die Einschläge immer näher kommen.

 

Mit "Der letzte Kuss" hat er nämlich einen weiteren todtraurigen und dem Lebensende - oder aber dem einer unerhört wichtigen Beziehung - zugewandten Text geschrieben. Alles Lebensfrohe ist dem Song fremd; die Musik perlt in herrlichstem Moll, irgendwo zwischen Beethovens "Mondscheinsonate" und Chopins

"Klaviersonate Nr. 2", vor sich hin. Im Refrain gibt sich Campino heiser und punkig wie eh und je. Er fragt: "Wo ist der Ort für den ehrlichsten Kuß?/Ich weiß, daß ich ihn für uns finden muß/Auf der Straße, im Regen, auf dem Berg, nah beim Mond/Oder kann man ihn nur vom Totenbett holen?" Ich möchte ihm antworten: "Mensch, Campi, alter Recke, du warst doch früher auch kein Kostverächter und hast gern bei Wein und Gesang mit einem Weib herumgeknutscht. Mag sein, daß da auch mal Eitelkeit oder schlicht animalische Lust im Spiel war, aber willst du jetzt wirklich alle Küsse deines Lebens in Frage stellen?" Das wäre doch zu schade, oder? Nur, weil man in die Jahre kommt und die Kurbel, die das Ding "da unten" hochkriegen soll, allmählich einrostet, sollte man doch nicht gleich das Leben und die Liebe in aller Bitterkeit abschließen.

Ein Text wie ein Hollywood-Film. Liefe "Der letzte Kuss" als Untermalung zum Joel-Schumacher-Klassiker "Flatliners", er würde perfekt passen. Wie Kevin Bacon, Julia Roberts oder Kiefer Sutherland als hochbegabte Medizinstudenten versuchen, den Moment des Todes bewußt zu erleben, um schließlich festzustellen, daß man in der Grauzone zwischen Leben und Tod von den eigenen Sünden überrannt wird, so scheint auch Campino an dem Punkt angekommen zu sein, wo die Vergangenheit zurückschlägt:

"Irgendwann kommt für jeden der Tag/An dem man für alles bezahlt/Dann stehen wir da/Denken wie, schön es mal war/Bereu’n unsre Fehler/Hätten gern alles anders gemacht" . Doch es ist zu spät. Was Andreas Frege in 43 Lebensjahren, davon 23 als Sänger der Toten Hosen, anderen angetan hat, das läßt sich nicht in knapp drei Minuten reparieren. Vielleicht erinnert sich Campino aber auch an die Worte, mit denen uns der alte Indianerhäuptling einst gewarnt hat: "Wenn das letzte Gläschen Bommerlunder leer getrunken und das letzte belegte Brot mit Schinken aufgegessen ist, dann werdet ihr wissen, dass Punk nicht lustig ist." Weil ich das so schade finde und weil ich nicht mag, daß meine Uhr nachts stehenbleibt - wer weiß schließlich, was das bedeutet - hole ich die Hosen-CD aus dem Player, befreie mich von Campinos Ungemach, lege stattdessen die Neuauflage der ersten Ärzte-Platte "Debil" ein und habe richtig Spaß an "El Cattivo", dem bitterbösen Cowboy.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Die Toten Hosen im Web


 

Links:

Die Toten Hosen - Nur zu Besuch: Unplugged im Wiener Burgtheater


JKP/Warner (D 2005)

 

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