Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 16

Joaquin Phoenix: "Folsom Prison Blues"

Zeit für eine neue Oscar-Kategorie: beste Darstellung völlig verkehrter Größenverhältnisse. Beim "Johnny-Cash-Singalike" würde Joaquin Phoenix allerdings leer ausgehen.    20.02.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Der Sage nach ist der Gott des Country justament vor seinem Aufstieg in den Olymp, wo er seinen seit einigen Jahren schon von Waylon Jennings vorgewärmten Platz neben Hank Williams und Jimmie Rodgers einnimmt, noch kurz in Hollywood aufgetaucht und dort Regisseur James Mangold ("Kate & Leopold") erschienen. Dabei soll er folgende Worte gesagt haben: "Nimm Joaquin Phoenix, der war als Commodus in 'Gladiator' so beeindruckend, daß er meinen größten Hits neues Leben einhauchen könnte". Sprachs und verschwand. Freilich nicht ohne zu verfügen, daß der Schauspieler gefälligst selber singen und also üben solle.

Joaquin Phoenix freute sich ob des Lobes und las zuerst nach, was Johnny Cash in seiner Biographie schrieb. Da gab es tatsächlich Parallelen! Phoenix´ heiß geliebter älterer Bruder River starb früh. Zwar nicht so früh wie der von Johnny, aber den von Cash beschriebenen Verlust des großen Vorbildes konnte Joaquin sofort nachvollziehen. Das konnte er schon in der "Ray"-Biografie. Beim Casting für die Rolle des Ray Charles schied er ja leider schon in der ersten Runde aus, obwohl er den blinden Mann zumindest stimmlich besser drauf gehabt hätte als den "man in black". Er nahm den Auftrag also an - und stand gleich vor zwei Problemen: einem optischen und einem akustischen. Wie, beim Zopf von Willie Nelson, sollte er, der mit gefühlten 145 Zentimetern Größe nicht wirklich kolossal wirkt, den 2,20-Meter-Hünen Johnny Cash spielen, der seine Gummiarme praktisch dreimal um die Gitarre wickeln konnte? Und wie sollte er mit seiner Stimme so tief hinunter kommen, wo der ihm zur Verfügung stehende Resonanzraum im Vergleich zu Cashs Kontrabaß-Volumen doch eher bescheiden, ja fast schon violinesk ist? Ach, es wäre doch leichter gewesen, Ray Charles zu spielen ...

 

Während es dank moderner Kameratechnik recht ordentlich gelang, den Größenunterschied zu kaschieren, hat es mit dem Gesang nicht so gut hingehauen. Die Duette mit der Film-June-Carter Reese Witherspoon sind ziemlich charmant, vor allem "Jackson", wo - immer der Legende nach, natürlich - Johnny Cash endlich das Ja-Wort der Angebeteten ins Mikrofon gehaucht bekam. Aber das düstere "Folsom Prison Blues" wirkt in der Zwergenversion von Joaquin Phoenix wie eine Karikatur seiner selbst. Die im Film angespielte Blues-Variante lassn wir an dieser Stelle lieber ausdrücklich außen vor. Denn erstens erzeugt Phoenix mit ihr eine sehr eigene, intime Stimmung, die mehr an den Talking Blues der späten 40er Jahre oder den frühen John Lee Hooker erinnert, und zweitens ist die Version leider nicht auf der Soundtrack-CD zu finden.

Besonders unfreiwillig komisch klingt Phoenix vor den Insassen des Gefängnisses von Folsom. Zur Zeit der legendären Aufnahme hatte Cash den ersten großen Drogenentzug hinter sich, und seine Stimme war schon wesentlich tiefer und von den Irrungen und Wirrungen seines Lebens gezeichnet als bei der ersten Plattenaufnahme des während seiner Militärzeit in Germany entstandenen Songs. 1956, im legendären Sun-Studio, war Cashs Timbre nur geringfügig dunkler als das von Phoenix. Aber als Johnny zwölf Jahre später vor den Lebenslänglichen im Folsom Prison stand, schien er alle Bitterkeit der Welt, allen Haß und alle Schwermut aus einem bis dato nicht gekannten Höllenschlund heraufzuschleudern. Es war dieser pechschwarze, unergründlich verletzliche, gleichzeitig aber bösartige Ton, der die Worte des "Folsom Prison Blues" derart perfekt zur Geltung brachte, daß nicht nur die Häftlinge meinten, Cash wäre einer von ihnen.

Wenn man ihn fragte, wie er auf die Zeile "I shot a man in Reno, just to watch him die" kommt, antwortete Cash: "I´m looking for the most evil reason for killing a man. To kill somebody to watch him die is the pretty most evil reason, I think". Und genau dieses sinnlose Gewaltausüben und die ebenso sinnlose Bestrafung im Bundesverlies bringt Johnny Cash beim Konzert in Folsom so glaubhaft rüber, daß man freiwillig ans Schlechte im Menschen glaubt. Bei Joaquin Phoenix hingegen gerät dieser Meilenstein des Bitterbösen zu einem braven Liedchen, dem - wenn man von den Cash-Lyrics absieht - so gut wie nichts Zynisches, Fieses oder Brutales mehr innewohnt. Der und in Reno einen Mann umbringen? Einfach so? Das nimmt ihm doch kein Mensch ab. Für Phoenix müssten die Zeilen glatt umgeschrieben werden: "Ich wollte in Reno einen Menschen erschießen, doch ich zitterte so, daß mir schließlich der Colt aus der Hand rutschte und mich der andere auslachte" - aber solche Sätze würde nicht mal Kenny "Coward Of The County" Rogers singen.


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Manfred Prescher

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