Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 100

The Byrds: "One Hundred Years From Now"

So, das wäre geschafft. Wenn Sie dieses "Miststück" gelesen haben, geht die Welt endgültig unter. Nein, Spaß beiseite - aber ab nächster Woche ist dann erstmal Schluß mit lustig. Sagt Manfred Prescher.    01.10.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

"One hundred years from this day will people still feel this way." Mit diesem wenig hoffnungsvollen Satz beginnt eine der tragischen Gestalten der Popmusik ihren Blick in die Zukunft: Gram Parsons, der mit "One Hundred Years From Now" einen Höhepunkt seiner kurzen, aber heftigen Kollaboration mit den Byrds erschaffen hat, wünscht sich darin nichts sehnlicher, als daß er - wenn schon nicht jetzt, dann wenigstens in ferner Zukunft - verstanden werden wird. Bislang sieht das allerdings nicht so aus. Vielmehr scheint es fast so, als ob sich kaum einer mehr an das früh (mit nicht einmal 27 Jahren) verstorbene Genie erinnern möchte; von Verständnis für den Country-Rock-Dichter ganz zu schweigen. Aber das hat ja auch noch Zeit: Wenn man als "this day" das Veröffentlichungsjahr des Albums hernimmt, auf dem sich der Song befindet, landen wir kurz vor dem Ende von Friede-Freude-Haschischkuchen, im Jahre des Herrn "Jebus" (Homer Simpson), 1968.

Bis heute sind von den 100 also 39 Jahre vergangen, seit die kalifornischen Singvögelchen und ihr Kurzzeitmitglied aus Florida mit "Sweethearts Of The Rodeo" über die Lande flogen und auf herzerweichende Art all die erreichten, die nicht auf eine strikte Rassentrennung von Country und Folkrock bestanden. Es war damals, wie es in der Alltagswelt von Tier und Mensch seit jeher ist: Man muß sich nur lange genug in der freien Wildbahn den Wind der Freiheit um die Nase wehen lassen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß man von einem Guano-Bomber getroffen wird.

Wird man dagegen von "Sweethearts" mit seinen warmen Klängen und seiner zwischen den grundpositiven Harmonien versteckten Traurigkeit getroffen, so verfällt man unweigerlich dem schönsten Stück depressiver Suche nach einer intakten Welt, das seit den Tagen des heiligen Hank Williams auf Vinyl gepreßt wurde.

Allerdings fand schon seinerzeit die Mehrzahl der Menschen Deckung vor den Angriffen der Byrds. Dennoch erreichte "Sweethearts" mehr Publikum, als es Parsons später mit den Flying Burrito Brothers oder seinen beiden Solowerken gelang, obwohl die ziemlich ähnlich sind. Die Menschheit war zwischen 1968 und ´73 einfach noch nicht reif dafür - genauso, wie sie damals noch nicht reif genug war, mit Captain James Tiberius Kirk in die unendlichen Weiten des Alls aufzubrechen. Noch heute ist es mir kaum möglich, sich die Leute auf unserem Planeten vorzustellen, wie sie gerade dabei sind, einen ersten Kontakt mit Vulkaniern aufzubauen. Soviel Phantasie habe ich nicht. Vielleicht ist da Gram Parsons, der eigentlich Cecil Ingram Connor hieß, der richtige Mann? Wahrscheinlich sitzt er eh gerade neben Hank Williams, Lefty Frizzell und Johnny Cash - und hat von da aus einen viel besseren Überblick über das bunte Treiben in diesem entlegenen Spiralarm der Galaxis.

Von seiner Warte aus kann er wahrscheinlich auch in die Zukunft schauen und erkennen, daß sich "one hundred years from 1968" nicht so viel geändert haben dürfte. Die Polkappen schmelzen zwar garantiert unablässig weiter, die Herzen der Menschen aber wohl nicht. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muß man nicht als Einstein die Zahlenspielereien ganzer Tafeln auf den berühmten Punkt bringen. Es genügt, wenn das Ergebnis der Rechenaufgabe 2+2 irgendwo zwischen 2,5 und 5,5 liegt. Manchmal reicht halt eine grobe Annäherung ...

 

"One hundred years from this time would anybody change their minds and find out one thing or two about life", singen die Byrds. Diese Hoffnung trieb mich in den vergangenen 100 Wochen auch an - und es erscheint mir rückwirkend, als wäre schon ein Jahrhundert seit dem ersten "Miststück" vergangen. Dabei werden am 31. Oktober gerade einmal mal zwei Jahre seit dem Beginn meiner Missionarstätigkeit beim EVOLVER verstrichen sein. Präziser ausgedrückt: Missioniert habe ich schon viel früher, eigentlich schon, seit ich zum ersten Mal "Runaway" von Del Shannon gehört habe und sich Meinung und Gefühl zu der Überzeugung verdichteten, daß doch bitteschön jeder erkennen müsse, was für ein verdammt genialer Song das ist. Damals war ich so etwa vier, fünf Jahre alt, machte mich aber doch schon mit meinen Salamander-Sandalen auf den Weg zum Pop-Priester.

Was ich damals nicht wußte, das ist, daß es so was wie ein persönliches Song-Horoskop gibt und ich ausgerechnet in dem Moment ins fahle Licht der Welt geworfen wurde, als "I´m a-walkin´ in the rain/Tears are fallin´ and I feel the pain" Nummer 1 in den Billboard Charts war. Das erklärt einiges, aber nicht alles. Daß der gemeine Vico-Torriani-Gerhard-Wendland-Fan aber trotz günstiger astrologischer Vorzeichen wenig bis nichts mit "Runaway" anfangen konnte, hat freilich nichts mit den Sternen zu tun, sondern mit mangelnder Geschmacksbildung, gepaart mit den Ablagerungen der "Jazztanzen verboten"-Zeit. Und mit einer Oberflächlichkeit, die sich bis zum heutigen Tag mit all den Casting-Shows, illegalen Massen-Downloads vom kleinsten gemeinsamen Nenner, dem sogenannten Quark und mit 5, irgendwas Millionen Zuschauern des "Musikantenstadls" inzestuös fortgepflanzt hat.

Es handelt sich um einen Abstumpfungsprozeß, der nicht aufzuhalten ist. Längst merkt kaum einer mehr, daß im Radio permanent Variationen von drei oder vier kaum unterscheidbaren Liedern laufen. Wahrscheinlich bekommen nur die wenigsten überhaupt mit, daß das Gerät eingeschaltet ist. Daß die Trend-Jünger auch nicht viel besser drauf sind als Otto Normalkonsument, ist die andere Sache. Die hocken in ihrer dunklen Nische, lauschen ihren Verschwörersendern und erfreuen sich daran, sich von der Masse der Dumpfbacken abzuheben. Dabei grenzen sie sich untereinander von anderen Geschmackskeimzellen rigide ab und hypen Platten zum Meisterwerk hoch, die in einem Gesamt-Pop-Kontext allerhöchstens Mittelmaß sind - wenn überhaupt. Ich denke da zum Beispiel an die Babyshambles oder an Bloc Party. Im Hier und Jetzt sind diese Werke natürlich Lichtjahre besser als der Rest.

 

100 "Miststücke" lang habe ich davon erzählt - und merkwürdigerweise bekam ich die härteste Reaktion nicht auf eine böse Abrechnung, sondern auf eine liebevolle Würdigung von Jerry Lee Lewis. Das gibt mir im nachhinein doch zu denken. Also ist jetzt Schluß mit lustig. Mit Nummer 100 heißt es im Sinne von Gram Parsons: "Nobody seems to think it all might happen again." Vorbei, Schluß, aus. Aber keine Angst, fellows. Jeder Abschied mag zwar ein bißchen Sterben in sich tragen, wie ein Schlager von Wolfgang Petry oder Petry Alexander mal behauptete, aber eben auch einen Neuanfang. In genau drei Wochen beginne ich erneut - mit "Miststück II/001".

Die zweite Staffel wird von all den merkwürdigen Phänomenen und phänomenalen Merkwürdigkeiten handeln, die einem so unterkommen und sich gern in einem bestimmten (auch menschlichen) Miststück manifestieren.

Am Montag, den 22. Oktober, geht es los - und zwei Jahre später werden wir dann gemeinsam erkennen, daß sich die Welt doch ein wenig verbessert hat und eine Ära der globalisierten Geschmacksbildung eingeläutet wurde. Eine Illusion? Fürwahr. Aber man darf, wie Gram Parsons schon sagte, die Hoffnung nie aufgeben.

Bis die Dinge sich zum Besseren wenden, trage ich daher weiter Schwarz und schreibe "Miststücke".


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

The Byrds - Sweethearts Of The Rodeo


SonyBMG (USA 1968)

Links:

Gram Parsons für die Ewigkeit


The International Submarine Band - Safe At Home

(1968, produziert von Lee Hazlewood)

ØØØØØ

 

The Byrds - Sweethearts Of The Rodeo

(1968)

ØØØØØØ

 

The Flying Burrito Brothers - The Gilded Palace Of Sin

(1969)

ØØØØØØ

 

The Flying Burrito Brothers - Burrito Deluxe

(1970)

ØØØ

 

Gram Parsons - G.P.

(1972)

ØØØØØØ

 

Gram Parsons - Grievous Angel

(1973)

ØØØØØ

Links:

Kommentare_

Thomas Fröhlich - 01.10.2007 : 14.39
Danke danke danke!
Endlich!
Eine - längst überfällige - Würdigung eines der Besten ... in einer der wundervollsten Bands überhaupt ... auf einem der besten und wundervollsten Alben im Universum!
Manfred Prescher - 11.10.2007 : 17.03
Hallo Thomas Fröhlich,

danke für den Kommentar! Da kann man wirklich nichts mehr zufügen. Ich seh das ganz genauso, weshalb es auch eine würdige Nr. 100 der Kolumne war und wir außerdem extra für Gram einen zusätzlichen Bewertungspunkt eingeführt haben...

liebe Grüße
Manfred Prescher

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