Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 33

Katy Perry: "I Kissed A Girl"

Da kann man eigentlich nur noch ungläubig staunen, findet Manfred Prescher: Mit diesem Song zeigt religiöses Eiferertum ein überraschend charmantes Antlitz.    11.08.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

"I Kissed A Girl" ist in den USA der mit Abstand größte Hit des Jahres. Bereits seit dem 5. Juli führt das Lied die offiziellen Charts an, und trotz Rihannas Doppel im zeitgemäßen Bauerndisco-Hoppel ist kein Ende in Sicht. Hierzulande kommt die Single der 22jährigen Katheryn Elisabeth Hudson erst am 15. August auf den Markt, aber ich wette, daß sie kurz darauf auf Platz 1 rangieren und landauf, landab mindestens so intensiv rauf- und runtergedudelt wird wie "I Don´t Feel Like Dancing" oder "Grace Kelly".

Mit diesen Gassenhauern allererster Güte hat "I Kissed A Girl" die verdammt eingängige Melodie, den extrem hohen, durch Zitate noch zusätzlich in der Wirkung verstärkten Widererkennungswert und die catchy Refrain-Zeilen (hier: "I kissed a girl and I liked it/The taste of her cherry chapstick/I kissed a girl just to try it/I hope my boyfriend don´t mind it") gemeinsam. Das bleibt im Gedächtnis - und vom Boyfriend mal abgesehen wäre manch junger Bursch bei dieser gleichgeschlechtlichen Aktion sicher gern Mäuschen gewesen, zumal Katy Perry doch recht schnuckelig ist. Bevor ich aber auf Homosexualität und neuartige "Schleichwege zum Christentum" (Max Goldt) eingehe, noch ein Wort zur Musik: "I Kissed A Girl" ist die Mischung aus Sound und Attitüde von Blondie, Pat Benatar und Nena, klingt also ziemlich nach den 80er Jahren - und ist doch auch nahe an Duffy. Das macht der modische Girlie-Schwung, dieser grazile Hüpfer in den Zitatensee.

 

Sehr charmant, sehr hübsch und für sich genommen ein ganz normaler Blick hinüber ans andere Ufer - trotzdem ist Kate Perry das schöne Antlitz der späten Bush-Ära und des reaktionären Christentums amerikanischer Prägung. Und das steht dem Thema "Austausch von Körperflüssigkeiten" (Fanta 4) schon mal per se ablehnend gegenüber. Weit verbreitet ist zum Beispiel die Ansicht, daß sexuelle Phantasien und Selbstbefriedigung als Sünde gelten und durch kalte Selbstdisziplin und -kasteiung im hormonellen Keim erstickt werden sollen.

In solch einem Klima ist natürlich auch Homosexualität ein Zeichen teuflischer Zersetzung von Gottes Ebenbild. Auf die Hardcore-Eiferer wirkt dies fast so, als stürzte ein kunstsinniger Mensch ins Elend, weil jemand das Werk eines alten Meisters mit Säure entstellt und letztlich zerstört hat. Wer jetzt denkt, der Prescher dichtet da in "I Kissed A Girl" etwas hinein, was der Popsong an sich gar nicht transportiert, hat zumindest teilweise recht: Diese Speerspitze der Reaktion läßt kaum homophobe Tendenzen erkennen - und wenn, dann erschließen sich die nur, wenn man das bislang doch sehr schmale Gesamtwerk unter die Lupe nimmt.

Die Tochter eines Pfarrers und einer Pfarrerin gab mit dem Album "Katy Hudson" 2001 ein in klerikalen Kreisen beachtetes Debüt, das aber bei Otto Normal-Pop-Fan massiv floppte. Danach herrschte Funkstille, wenn man davon absieht, daß das Kätchen immer mal auf Kirchenfesten zum Allmächtigen emporjubilierte. Getreu dem Motto: Der guckt zu uns hinab, und Katy brüllt nach oben. Erst Ende 2007 tauchte sie mit dem Song "Ur So Gay" wieder auf. Damit provozierte die Künstlerin, die von sich behauptet, ein Fan von Freddie Mercury zu sein, ein mittelschweres Skandälchen unter Lesben und Schwulen. Old Queen-Head hätte also bestimmt nicht allzu viel übrig für die Ergüsse von Madame Perry. "I Kissed A Girl" würde Freddie allerhöchstens mit "Na und?" kommentieren.

 

"Ur So Gay", übrigens produziert und teilweise geschrieben von Greg Wells (Mika!), ist da ein anderes Kaliber: "I hope you hang yourself with your H&M scarf/While listening to Mozart" und "I can´t believe I fell in love/With someone that wears more makeup than ..." Boy George? Freddie Mercury? Dame Edna? Madonna? Wir wissen es nicht. Die Klischees flutschen nur so durch den Song: Homosexuelle essen kein Fleisch, fahren Elektroautos und ergötzen sich daran, daß sie von Heteros nicht verstanden werden.

Ob man das Ganze tatsächlich allzu ernstnehmen muß, ist allerdings fraglich. Vor allem, weil die Plattheiten in durchaus neuartige und witzige Bilder gesteckt wurden: "You´re so indie rock/It´s almost an art/You need SPF 45 to stay alive." Oder noch besser: "I´m so mean cause I cannot get you outta your head/I´m so angry cause you rather myspace instead." Die Grenzen zwischen albernem Girlie-Quark und Diskriminierung sind freilich fließend - erst recht in einem Land, das gleichzeitig federführend in den Bereichen fortschrittlicher Gender-Forschung und Sexualitätsfeindlichkeit ist, das die ersten geouteten Schwulen und den "Summer Of Love" hervorbrachte, aber auch das Anbinden der Wichshand an den Bettpfosten empfiehlt.

Genau diesen Widerspruch zelebriert Kate Perry nun gleich zweimal: Erst mit einer Attacke auf schwule Mädchen ("you´re so gay and you don´t even like boys") und nun mit dem Selbstversuch, denn in "I Kissed A Girl" probiert sie das gleichgeschlechtliche Techteln und Mechteln selber aus. Und siehe da: Es war gar nicht mal so schlecht beziehungsweise nah an dem oft kolportierten Satz, daß außer Bauknecht sowieso nur eine Frau weiß, was Frauen wünschen. "It felt so wrong" - klar, die eingeimpften Wertvorstellungen - "it felt so right". Dauerhaft ans andere Ufer übersiedeln und in den Orden des Heiligen Klaus Nomi einzutreten kommt für Katy auch nicht in Frage: "No I don´t even know your name/It doesn´t matter/You´re my experimental game/Just human nature/It´s not what/Good girls do." Warum eigentlich nicht?

Der besorgte Teil der Schwulen und Lesben sollte "Ur So Gay" und "I Kissed A Girl" einfach ignorieren und tun, "was ein Baum tun würde, wenn ein Schwein sich an ihm kratzt" (Reinhard Mey). Der Rest darf diese Lieder auf jeden Fall lieben, da mit einer grundsätzlichen Änderung des moralischen Werte- und Normenkodex selbst nach Dauerbeschallung nicht zu rechnen ist. Das 50er-Jahre-Dita-von-Teese-Outfit ist hübsch sinnlich, und daß das Albumcover von "One For The Boys" eine ziemlich werkgetreue Nachstellung des Plakats zu Kubricks "Lolita"-Verfilmung ist, kriegt sowieso keiner mit - außer den EVOLVER-Lesern natürlich, denn soviel Bildung muß an diesem exklusiven Ort schon sein.

Noch mehr Wissen vermittelt übrigens das nächste "Miststück": Nach einem zweiwöchigen Urlaub geht es dann um einen großen alten Grantler, um Randy Newman. Bis dahin möchte ich mit der von mir hochverehrten Miabella Bärchen (Mia, wo bist Du?) enden: "Liebes, liebes Tagebuch/Ne Frau war bei mir zu Besuch/Liebes, liebes Tagebuch/Ich hab´s heut mit ner Frau versucht ..."


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Katy Perry - One For The Boys

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EMI (USA 2008)

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