Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 11

Ryan Adams: "Carolina Rain"

Ein Songwriter recyclet sich selbst - und zwar so lange, bis sich wirklich jeder auf Erden an ihm sattgehört hat. Manfred Prescher rät Ryan Adams zu einer längeren Schaffenspause.    16.01.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Wer stoppt diesen Mann? Nicht einmal die Plattenfirma scheint dazu in der Lage - von Hinweisen auf die Sättigung des Marktes mit Ryan-Adams-CDs läßt sich eine richtige Künstlerseele nicht aufhalten. Und daher werden die neuen Veröffentlichungen eben nur so lange hinausgezögert, wie es irgend möglich ist. Das heißt im Falle des Liedermachers, der in Personalunion als definitiver Nachfolger von Bob Dylan, Johnny Cash und Bruce Springsteen gilt, daß die Gnadenfrist bestenfalls einige Wochen währt. Denn erstens ist bekannt, daß Adams leicht sauer wird, wenn man seinen künstlerischen Mitteilungsdrang aus wirtschaftlichen Gründen hemmt, und zweitens ist anzunehmen, daß sich mit jeder weiteren Woche, die man mit dem Verkaufsstart wartet, die Halde der veröffentlichungsbereiten Songs unaufhaltsam vergrößert.

Wenn Adams ein Ziel hat, dann ist es die globale Ryan-isierung. Der Endsieg seines Feldzugs sieht wahrscheinlich so aus: Eine Ladenkette wird nur noch seine CDs verkaufen, für die Werke anderer Künstler lassen die anvisierten 5000 Quadratmeter auf den grünen Wiesen zwischen Nobodyville/Arkansas und Windisch-Krächz/OÖ einfach keinen Platz. Wer da an Gleichschaltung denkt, liegt völlig richtig: Die Ryan-isierung sorgt schließlich nicht etwa dafür, daß der Fundus an unterschiedlichen Adams-Songs wüchse - nein, es sind maximal fünf unterschiedliche Lieder, die der Mann seit "Whiskeytown"-Zeiten immer und immer wieder aufnimmt. Mal tut er das mit den Cardinals, mal allein, mal rockiger, mal Country-lastiger, meist depressiv und todtraurig.

In den vergangenen paar Monaten walzte er seine paar Ideen zunächst auf dem Doppelalbum "Cold Roses", dann auf "Jacksonville City Nights", der Country-Hommage an seine Heimatstadt, und nun auf "29" aus. Ein Song kommt auf allen Platten gleich mehrfach vor. Dieses Mal heißt er zum Beispiel "Carolina Rain" und ist absolut verwechselbar: extrem langsam, wortlastig und von Adams mit verzweifelndem Quäken intoniert. Die Melodie hat man auch schon öfter gehört, auf "Love Is Hell", auf "Cold Roses", auf "Gold" und sogar auf "29", denn das Titellied oder "Sadness" klingen mehr als nur ähnlich. Auch der Text kommt dem Zuhörer bekannt vor. Wer sich nicht gleich an den frühen Dylan oder an Tom Waits zur Zeit von "Swordfishtrombones" erinnern will, braucht sich nur die Texte anderer Adams-Lieder vorzunehmen und findet Sätze wie "Nobody loved me and nobody even tried", "Like a sun that just wouldn´t set out on the horizon" oder "Cry me like a river till the morning comes" wieder. Für sich genommen sind die Zeilen von "Carolina Rain" wunderschön, und auch die Melodie plätschert recht gefällig vor sich hin, doch im Werk-Kontext handelt es sich dabei um die zigste Wiederholung der Wiederholung.

Für Ryan Adams sind das alles jedoch keine Wiederholungen - er arbeitet anders. Vor sich hat er zwei Kisten. In einer sind die griffigen Formulierungen, die er aus den bitteren Versen all der tragischen Country-, Blues- und Folkfiguren herausgelöst hat, die er so sehr bewundert. In der zweiten Kiste hat er die paar Melodiebögen abgelegt, auf die er seit Jahren setzt. Zuerst greift er in die Melodienschachtel, holt eine heraus, tauscht ein, zwei Noten untereinander aus, läßt die Linien aber in der Gesamtlänge unberührt. Schließlich würden sonst die Texte nicht passen. Er zieht also aus der einen Kiste "Don´t Ask For The Water" vom Solodebüt "Heartbreaker" und dann aus der anderen die passenden Zeilen dazu. Dann geht´s ab ins Studio. Dort weiß jeder, was zu tun ist, denn man hat den Song schon oft aufgenommen - und für den Moment ist "Carolina Rain" fertig. Einige Zeit später werden die Einzelteile von "Carolina Rain" zwangsläufig in weiteren Adams-Liedern auftauchen. Der Weg zur vollständigen, flächendeckenden Ryan-isierung ist immer noch sehr, sehr lang ...


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Ryan Adams - 29


Universal (USA 2005)

 

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