Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 26

Bruce Springsteen: "We Shall Overcome"

Rein in Jeans und Batik-Shirt, die Wanderklampfe ausgepackt - und auf geht´s zum Lagerfeuer, wo die Friedfertigen ihr Lied singen. Nur Manfred Prescher hat keine Lust darauf ...    02.05.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Im Bayerischen Fernsehen gab es über Jahrzehnte hinweg eine Serie namens "Z.E.N.". Die Buchstaben standen, wenn mich nicht alles täuscht, für "Zuschauen, Entspannen, Nachdenken", wurden aber von Frechdachsen in der Regel mit "Zurücklehnen, Einschlafen, Nachhintenkippen" belegt. Es war schon beeindruckend, wie kontemplativ beziehungsweise langweilig fünf ruhige Fernsehminuten sein konnten.

Wahrscheinlich geht es im halbstündigen Video, das auf der Bonus-Disc des 21. Springsteen-Albums "We Shall Overcome" zu finden ist, mindestens genauso ermüdend lahm zu. Ich habe mir die Filmaufnahmen von den Sessions allerdings noch nicht angeschaut - und werde das wohl auch nicht. Ich weiß ja auch so, was zu sehen sein wird: Bruce und seine Mitstreiter spielen wie in Trance alte Folk-Klassiker, bedächtig und so langsam, daß einem das letzte Werk "Devils & Dust" wie eine Highspeed-Punk-Platte vorkommt. Zwischendrin nickt mal der eine oder andere Musiker für einen Moment weg, nimmt seine Sekundenschlaf-Auszeit. Aber keiner merkt´s. Der Boss murmelt einfach weiter vor sich hin. Das muß ich mir nicht antun.

Die Songs der "Pete-Seeger-Sessions" sind so zurückhaltend und meist lahmarschig eingespielt, daß das völlig genügt, um vom Weltengetöse Abstand zu nehmen - und spätestens nach dem dritten Song ("Mrs. McGrath") einzupennen. Leider bekommt man dann die Highlights eines Albums, das zwischen Ödnis in Reinkultur und großartigen, intensiven Momenten changiert, nicht mit. Die Musikindustrie nennt sowas "intime Aufnahmen"; ich sage, die CD ist - von "Oh Mary, Don´t You Weep" und "Shenandoah" abgesehen - langweilig.

 

Aber Springsteen ist nun mal der Boss, und der bestimmt die Marschrichtung. Die Auswahl der Folksongs ist durchaus interessant, zumindest für all jene, die sich die von Harry Smith liebevoll editierte 6-CD-Box "Anthology Of American Folk Music" zugelegt haben, denn manches wird man im Original oder in einer früheren Fassung darauf wiederfinden. Daß der Boss zugunsten echter Raritäten weitestgehend auf die Gassenhauer des Pete Seeger verzichtet hat, ehrt ihn auf jeden Fall. Daß sich Springsteen vor dem mittlerweile 85jährigen König der Folkmusic verneigt, ist verständlich. Das hat der Alte auch verdient, obwohl er bekanntermaßen den einen oder anderen Song einfach von unbekannten Musikern "übernommen" hat - sozusagen eine feindliche Übernahme, denn Tantiemen sahen diese tragischen Gestalten in der Regel nicht. Auch das belegt die "Anthology Of American Folk Music" mit drastischen Beispielen.

 

"We Shall Overcome" ist zwar ein echter Seeger-Song, aber eigentlich auch wieder nicht. Denn sowohl die Melodie als auch der eigentlich karge und einfältige Text gehen direkt auf ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebtes Gospelstück namens "I´ll Overcome Some Day" zurück. Die Tantiemen für all die vielen Aufnahmen, die es von dem Stück gibt, streicht allerdings allein Herr Seeger ein, was er in Interviews ehrlich zugibt. Mit der Springsteenschen Adaption des im Greisenalter zur Hippie- und Blumenkinder-Hymne gewordenen Ringelpiez-Evergreens dürfte der Folk-Senior noch ein paar Cent mehr auf dem Konto finden. Warum Springsteen ausgerechnet das Friede-Freude-Eierkuchen-Stück aufnahm, das sich so wunderbar für Zeltlager und Jugendgottesdienste eignet, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Er ist der Boss, er darf das. Als Mensch mit Musikgeschmack müsste er allerdings wissen, daß die definitive Fassung von "We Shall Overcome" 1965 von den Byrds veröffentlicht wurde. Die Urväter des Folkrock interpretierten das Lied so wunderschön, daß man auch vier Jahrzehnte nach dem Einstieg der Byrds-Version in die Billboard-Charts vor dem Song-Monument niederknien möchte – und plötzlich versteht, warum die Hippies auf einmal auf dieses Lied abfuhren. Begreift man "We Shall Overcome" als Kurzgottesdienst, dann sind die Byrds wie Mönche, die so schön singen, daß die Gemeinde nur eines kann: andächtig lauschen.

Springsteen hingegen raunt und nuschelt, daß die Menschen in den hinteren Reihen unruhig werden, mit den Seiten des Gesangbuchs rascheln oder sich allmählich verdrücken. Die Zeilen wie "We are not alone/Wer are not alone/We are not alone some day" klingen aus dem Munde des Mannes aus Freehold, New Jersey nicht wie die Ankündigung eines fernen, aber lohnenswerten Paradieses, sondern eher wie eine Drohung, wie eine Warnung vor einem Fanal, vor dem es kein Entrinnen gibt. Das ist natürlich gänzlich frei von christlicher Verheißungsideologie und womöglich auch näher an der irdischen Realität, unnötig und lahmarschig ist die aktuelle Variante von "We Shall Overcome" aber trotzdem.

Aber Springsteen ist halt der Boss - er wird schon wissen, was er tut.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Bruce Springsteen - We Shall Overcome: The Seeger Sessions


Sony BMG

(USA 2006)

 

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