Gnarls Barkley - St. Elsewhere
Warner Music
(USA 2006)
Gnarls Barkley trägt ein Superhelden-Kostüm, dessen Brust ein großes "P" ziert. Wie alle kostümierten Weltenretter ist er ein Kunstprodukt. Kein Problem - findet Manfred Prescher. 24.07.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Ray Charles sang einst "Georgia On My Mind", und wenn Georgia heutzutage so sehr in den Ohren tönt, daß es einen um den Verstand bringt, dann handelt es sich garantiert um "Crazy", das Lied von Danger Mouse und Cee-Lo Green, die als Brian Burton beziehungsweise Thomas Calloway das Licht der Welt erblickten. Die beiden verschanzen sich hinter dem breiten Rücken von Gnarls Barkley. Die Kunstfigur erobert die Welt, während die Schöpfer des 2006er-Sommerhits ihre Südstaaten-Homebase nicht verlassen.
Mit dem US-Bundesstaat Georgia hat das Duo nicht nur deshalb zu tun, weil "Crazy" so verdammt verspielt nach Outkast klingt, die von Athens/Georgia aus die Welt in "One Nation Under A Groove" verwandelten. Cee-Lo wurde in unmittelbarer Nähe der beiden Outkast-Mitglieder geboren, was durchaus auch musikalisch gemeint ist: Wie Dre und Big Boi gehört er seit gut 15 Jahren zur Dungeon Family. Und dieser Clan, verbunden durch das spezielle Gen des genialen Chaos, arbeitet an einer Neudefinition des Begriffs "P-Funk".
Für George Clinton, Bootsy Collins und die anderen Subgenre-Urväter war das "P" die Initiale für "Psychedelic" und natürlich auch für "Party" - wobei ihre Ausschweifungen auf einem völlig durchgeknallten Planeten stattfanden. Dort brauchte man keine Nachtbusse, weil durch kosmische Energie aufgeladene Blitze das Energie-Level der Funkateers auf gleichbleibend hohem Niveau hielten, sodaß sowieso niemand ans Heiabettchen dachte.
Die Söhne und Töchter dieser Groove-Pioniere nannten sich De La Soul, Digital Underground oder Deee-Lite. Nun stand der Buchstabe auch für "Peace". Die Herrschaften waren mittlerweile auf einen friedlich-idyllischen Party-Planeten ausgewandert, auf dem die Gänseblümchen neben allerlei bewußtseinserweiternden Kräutern blühten. Diese zweite Generation konnte nicht nur singen, sie sprach auch. Also rappte sie, bis der Nachtbus kam und finstere Gestalten mit Goldkettchen und Sonnenbrillen ausspuckte, die den Planeten mit ihren Uzis im Handumdrehen übernahmen.
Ein paar friedfertige P-Funkateers konnten in einem Shuttle fliehen und mußten in der Südstaaten-Gluthölle von Georgia notlanden. Ausgerechnet dort, wo sich mit weißen Bettlaken maskierte Menschen immer noch für die Krone der Schöpfung halten, gründeten sie ihre Kolonie. Ihr Zufluchtsort ist ein dunkles unterirdisches Verlies, und während oben die Gespenster tanzen und die Nachtbusse nach mutigen P-Funkateers durchsuchen, wird unten das "P" auch noch mit der unerhörten Leichtigkeit des "Pop" verbunden.
Geblieben sind das verspielte, durchgeknallte Psychedelic-Element, die liebliche Gänseblümchen-Aura und der Sprechgesang - eine Mixtur, aus der sich Hits machen lassen, die schon beim ersten Hören so eingängig sind, daß sie sofort und automatisch mitgesungen werden müssen. Dazu kommt ein Beat, der kraftvoll, aber fast ein wenig schluffig ist und selbst die morgendliche Dusche zu einer heißen Party werden läßt. So funktionierte "Hey Ya" von Outkast, und so klappte es auch bei Cee-Los gemeinsam mit Busta Rhymes geschriebenem Pussycat-Dolls-Megaerfolg "Don´t Cha".
Genau aus dieser Ursuppe wurde auch "Crazy" abgeschöpft. Das muß man alles nicht unbedingt wissen, da selbst die Kenntnis dieser Fakten nichts an der Unwiderstehlichkeit des Songs ändert. Vor diesem Ding gibt es kein Entrinnen. Man mag den Titel für einfallslos halten, wo das Wort doch schon millionenfach - unter anderem von Willie Nelson, Aerosmith, Aztec Camera oder R.E.M. (aus Athens/GA!) - als Titel eines Liedes verwendet wurde. Man mag "Crazy" sogar für einen Begriff halten, der zu deutlich die Botschaft "seht her, wie irre wir doch sind" transportiert. Sogar, daß die Cover-Artworks von "Crazy", der Nachfolge-Single "Smiley Faces" und des Albums "St. Elsewhere" stark an den Beatles-Trickfilm "Yellow Submarine" angelehnt sind, dürfte bedeutungslos sein: "Crazy" funktioniert einfach zu perfekt.
Der Song ist schließlich nicht in verrückten Minuten entstanden, sondern genial geplant. Zugrunde liegt ihm eine einfache Komposition von solch schlichter Eleganz, daß sie fast schon an die Motown-Klassiker aus der Feder von Holland-Dozier-Holland erinnert. Dazu gibt´s Sound-Pirouetten aus der bewährten P-Funk-Küche, die auch 30 Jahre nach Funkadelic noch so neu klingen, daß sich das Lied aus dem Einheitsbrei des Dudelfunks deutlich abhebt und so für Wiedererkennbarkeit sorgt. Und dann ist da dieser Groove.
Cee-Lo und Danger Mouse sind sich des universellen Charakters ihrer Schöpfungen natürlich bewußt. Daher ist es nur logisch, daß sie das Album zum Hit "St. Elsewhere" nannten. "Das Böse ist immer und überall", sang einst die EAV, und das stimmt auch für das Gute: "Crazy" funktioniert überall. Im hintersten Anatolien genauso wie bei H&M oder in der Dorfdisco. Das Lied regiert für kurze Zeit weite Teile der Welt. Leider herrscht es nicht überall - wo doch einer, der zu diesem Groove tanzt, garantiert keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, aber eben auch keine verqueren Schwurbeleien im Hirnkastl spazieren trägt. Und er hüllt sich auch nicht in weiße Bettlaken. One Nation Under A Groove? Nie war Gleichschaltung schöner.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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