Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 43

Bob Dylan: "Thunder On The Mountain"

Der Quengler hat ein Meisterwerk abgeliefert - und da kann ihm Manfred Prescher nicht einmal vorwerfen, daß er sich aus dem Heimatmelodien-Fundus bedient.    28.08.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Mittlerweile sieht Bob Dylan aus wie die leibhaftige Reinkarnation von Hank Williams: die ausgemergelte Gestalt, die gramgebeugte, Schmerzensmann-mäßige Attitüde, der echte Hank-Stetson, den er während seiner "Never Ending World Tour" trägt. Der einzige Unterschied zum ersten Country-Superstar besteht darin, daß Bob immer noch lebt, heute 65 ist und so weit über den Dingen steht, daß er den Kopf in die Wolken heben kann, wo er Hank und Johnny zur Rechten von Gott sitzen sieht.

Im Gegensatz zu vielen anderen Verehrern glaube ich nicht, daß Robert Allen Zimmerman selbst der Allmächtige ist. Nicht, daß ich es für unmöglich halte, daß ein jüdischer Zimmermann oder sein Nachkomme in eine solche Position hineinwachsen könnten, aber Dylan hat einfach schon zu viel Mist gebaut. Man denke nur an seine christliche "Man Gave Name To All The Enemy"-Phase. "Oh Mercy", war der damals drauf. Gut, Gott war auch schon hin und wieder ein schlimmer Finger, immerhin hat er einst sieben Völker auf einen Streich ausgelöscht, was nicht mal der Führer in so kurzer Zeit geschafft hat. Von dessen hernach völlig zu Recht daniederliegender Reputation will ich gar nicht reden. Aber Gott hat seine blutrote Phase schadlos überstanden.

 

Auch Bob Dylan überlebte die diversen Spleens; seine Katharsis war und ist der Folk. So wie er in den späten 50er Jahren angefangen hat, das Village nach brauchbaren Platten zu durchforsten und auf Spurensuche zu gehen, macht er es jetzt wieder. Seine heilige Ära hat er mit Aufnahmen vergessener Folk- und Bluesmusiker beendet. Weil ihm Leadbelly, Robert Johnson, die Carter Family oder Songs wie "Oh Death Where Is Thy Sting" und der "99 Years Blues" so viel bedeuten, hat er gleich drei Wege gefunden, dies uns allen mitzuteilen: Film, Radio und CD.

Der autobiographische, nach drei Worten aus "Like A Rolling Stone" benannte Dreieinhalb-Stunden-Mammut-Streifen "No Direction Home" führt uns wirklich zu den "complete unknown". Regisseur Martin Scorcese läßt Dylan von seiner Suche nach den musikalischen Wurzeln und nach Geschichten von ewiger Gültigkeit erzählen. In Schwarzweißbildern werden Menschen vorgestellt, die für alle Helden sein sollten, aber doch zu den Verlierern von Weltwirtschaftskrise und New Deal gehören. Die bitteren Lieder der Depression, die brachialen biblischen Allegorien und auch die Zeilen von tiefem Leid und vom Tod ermöglichten erst seine epische Art zu dichten. Möge er dafür den Nobelpreis bekommen.

 

Wie er zu den Liedern fand, die ihn prägten - oder besser, wie sie zu ihm fanden, erzählt er sehr anschaulich in seiner regelmäßigen Internet-Radiosendung "Theme Time Radio Hour – with your host Bob Dylan" auf http://www.xmradio.com. Das Rundfunkprogramm kostet zwar 12,95 Dollar im Monat, ist aber jeden verdammten Cent wert, denn Dylans witzige und eloquente Art, seine Gleichnisse von apostolischem Ausmaß, sind ein Muß. Nebenbei kann man erfahren, warum seine Songs so sind, wie sie sind: sie tragen den Geist der Ahnen in sich.

Das Geniale an Bob ist, daß er nicht nur der Vergangenheit nachhängt, sondern ihr eine höchst gegenwärtige Relevanz verleiht. Besonders auf seinen letzten drei Studio-CDs "Time Out Of Mind", "Love And Theft" und dem neuen Album "Modern Times" bekommen Blues, Folk und Country neues Leben eingehaucht. Dabei wirken die Texte so, als sei Dylan als Wanderprediger für den Orden der Vergessenen unterwegs. Er erzählt nicht mehr, er gliedert nicht mehr, er berichtet nicht mehr. In seinem berühmt-berüchtigten nasalen Nuscheln monologisiert und verkündet er stattdessen, singt das Hohelied auf die Schwachen wie "Nettie Moore", und zum Schluß des aktuellen Werks verkündet er "Ain´t Talkin’". Nein, er quatscht nicht, Small Talk ist nicht sein Ding.

Wie ein gleichmäßig, aber doch ruhelos fließender Strom ergießen sich die Worte über den Zuhörer. Sie sind ein stetig plätschernder Quell: "Some sweet day I´ll stand beside my king I wouldn´t betray your love or any other thing Gonna raise me an army, some tough sons of bitches I´ll recruit my army from the orphanages I been to St. Herman´s church and I´ve said my religious vows I´ve sucked the milk out of a thousand cows I got the porkchops, she got the pie she ain´t no angel and neither am I ..." geht es in "Thunder On The Mountain" ohne Punkt und Komma voran.

 

Der Song basiert auf den Liedern der Carter Family. Wer mehr wissen will (und mehr als eine Handvoll Dollar übrig hat), sollte sich die von Bear Family herausgebrachte 12-CD-Box "In The Shadow Of Clinch Mountain" kaufen - und sich "There´ll Be No Distinction There" oder "Dark And Stormy Weather" anhören. Aus diesem Holz hat Dylan sein Lied geschnitzt. Sein Text umfaßt allerdings mindestens fünf oder sechs Songs der Carter Family in einem einzigen. Das erklärt die Atemlosigkeit seiner Epen. Und ihre Dauer - unter fünf Minuten geht es nicht.

Mit "Thunder On The Mountain" beginnt das Album nicht gerade wie ein Donnerhall, aber auf eine Art, die man sonst niemandem verzeihen würde: altbekannt und vertraut, der Song ist die typische musikalische Gebetsmühle. Fast so zeitlos wie die Vorbilder, deren Geister er heraufbeschwört. Seit "The Freewheelin´ Bob Dylan" gibt es ihn schon. Damals hieß er "Bob Dylan´s Dream". Auf "Love And Theft", dem Vorgänger von "Modern Times", gab es "Mississippi" und den "Lonesome Day Blues". Dieses Lied wird es immer geben, es ist ein Stück Ewigkeit. Und der einzige, der so gekonnt mit der unendlichen Zeit umgehen konnte, war ein Mann mit zwei Vätern. Einer davon war Zimmermann ...


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Manfred Prescher

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