Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 54

Depeche Mode: "Martyr"

Nichts Neues auf dem Eisplaneten - im Gegenteil: Der Sound der aktuellen Depeche-Mode-Single ist so retro, daß er fast schon wieder innovativ ist. Sagt Manfred Prescher.    13.11.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Um eines gleich vorwegzunehmen: Depeche Mode haben sich immer nur sehr sachte weiterentwickelt. Das Geheimnis ihres seit ewig und drei Tagen andauernden Erfolges besteht auch darin, daß sich jede nachwachsende Fan-Generation sofort im Gesamtwerk zurechtfindet. Ausnahmen sind vielleicht die ganz frühen Songs, die die unverwechselbare Programmierhandschrift des großen Vince Clarke tragen. Doch der verließ bereits Ende 1981 die Band und brach ans andere Ufer auf.

In den dreieinhalb Jahrzehnten seit seinem Abschied verblüfften die Hinterbliebenen mit einer Konstanz in punkto Stil, die eigentlich rein gar nichts mit dem Gruppennamen zu tun hat - denn der wurde vom französischen Haute-Couture-Hochglanzblatt "Dépeche Mode" als Dauerleihgabe übernommen. Allerdings zeigt die Historie der Band, daß diese stoische Unverwechselbarkeit nie altbacken oder unmodisch klang. War man bis in die späten 80er Jahre dem Zeitgeist immer exakt so knapp voraus, daß "Music For The Masses" möglich war, verliefen die 90er auf Augenhöhe mit den jeweils aktuellen Trends. Mittlerweile könnten DM allerdings beinahe als gestrig bezeichnet werden, wäre da nicht die derzeitige Wiederentdeckung der an und für sich finsteren Eighties.

 

Und Martin Lee Gore weiß das, soviel ist schon mal sicher. Ein Beleg dafür ist das aktuelle "Best Of"-Album von Depeche Mode, das natürlich noch unnötiger als ein Kropf ist. Erstens gibt es schon genug Compilations der Engländer, und zweitens zeichnen sich die Anhänger der Band durch eine fast religiös-spirituelle Treue aus. Ihre fest verankerten Glaubensprinzipien zeigen sich mit jeder ersten Single aus einem angekündigten Album, wenn in Scharen Plattenläden und Kaufhäuser geplündert werden. Neue Songs von DM steigen in den Charts immer unter den Top 5 ein, oft sogar auf Platz 1 oder 2. In der zweiten Woche geht´s dann im Sinkflug abwärts. Die "Masses" warten dann auf das dazugehörige Langspielwerk, das seit Generationen 14 Tage später zu haben ist.

 

Ich gebe zu, daß sich in obigem Absatz ein kleiner Fehler versteckt hat: Die Worte "in Scharen" treffen es in den Zeiten des musikindustriellen Niedergangs nicht mehr so genau. Schließlich haben die Fans das jeweils aktuelle Lied heutzutage schon vor dem Release des physischen Tonträgers in einem eher amorphen Aggregatszustand aus den weltweiten Seiten des Netzes auf ihre eigene Hardware-Heimat übertragen. Ich behaupte, daß DM-Jünger das sogar häufiger tun als andere. Eine gewisse Technikaffinität weisen sie bestimmt auf; schließlich ist ihnen schon lange klar, daß kein Mensch Gitarren braucht. Chip, Bits und Bytes klingen auch gut - zumindest, wenn Gore, Fletcher und Gahan damit jonglieren. "Martyr" stieg aber dennoch - und wie gewohnt - auf Platz 2 der deutschen Single-Hitliste ein. 200 oder 300 Menschen sammeln wahrscheinlich auch die immer sehr hübsch kreativen Cover der Mode-Platten. Und weil das so ist, wird auch "Martyr" in mindestens drei Dutzend unterschiedlichen "Limited" oder "Sonstwas"-Editions herausgebracht werden. Das ist auch gut so, weil man ja spätestens seit Henry Ford weiß, daß das Angebot die Nachfrage regelt.

Im Prinzip ist es völlig unerheblich, ob ein Song von Depeche Mode mit rockigen Elementen daherkommt: "John The Revelator" oder "I Feel You" sind trotz Gitarre und verstärkt straightem Vorwärtsdrang so typisch, daß diese vergleichsweise neuen Stücke von Fans schon anno 1985 eindeutig und sofort identifiziert worden wären. Das liegt am unverwechselbaren Gesang von Dave Gahan, der die Tonlage nie ändert, was irgendwie immer stoisch und unterkühlt wirkt. Aber unter der Eisfläche brodelt es, da klingen Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder die Verletzlichkeit der gemarterten Seele durch. Das bekommt keiner so gut hin - obwohl: Bei Heaven 17 sang einst einer, der konnte das auch. Allerdings blieb dieses Trio nicht bei der Sache.

Schwamm drüber. Depeche Mode sind noch da, und es sieht aus, als wären sie das noch lange. Es gab schon mal Zeiten, da waren sie nicht so fit, aber ich will jetzt nicht von Drogen reden, wir waren schließlich alle mal jung.

 

"Martyr" könnte leicht auf "Construction Time Again" oder "Black Celebration" drauf sein. Die typische Instrumentierung bezieht sich eindeutig auf diese Phase der Band; die Orgelzusätze galten als verschollen, nun sind sie wieder da. Auch textlich paßt der Song zu dieser Zeit, da er wieder eines der Hohelieder auf die Liebe ist - und alle Abgründe enthält, die zwischen zwei Menschen möglich sind: Abhängigkeit vom anderen, der eigenen Triebhaftigkeit, der komplexen Gefühlsstruktur, in der man sich wie in einer Takelage verfangen kann. Man stirbt für die Liebe, und mit dem Herzen bringt man Gebäude zum Einstürzen - auch wenn es sich in diesem Fall "nur" um Gedankengebäude oder antiemotionale Schutzwälle handelt. Wie jeder gute Märtyrer ist man bereit, jedes Opfer zu bringen und auch in Kauf zu nehmen, daß die Liebe erst nach dem selbstgewählten Tod erkannt wird. Das ist so schön, so voll Pathos, daß Georg Friedrich Freiherr von Hardenberg an "Martyr" seine Freude daran hätte. Gerade mal so tief drin, daß es mit bloßem Ohr noch erkennbar ist, sind Depeche Mode nämlich hoffnungslose Romantiker.

"I´ve been a martyr for love/And I will die in the flames/As I draw my last breath/As I´m closing on death/I will call out your name."


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Manfred Prescher

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