Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 65

Neil Diamond: "Evermore"

Abzocke oder zweiter Geniestreich - das ist die eine Frage. Die andere: Muß man versuchen, ein Meisterwerk zu verbessern? Eine klare Antwort gibt es nicht, meint Manfred Prescher.    29.01.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

"Why? Tell me why? Don´t know why? Oh why?" Das fragt Neil Diamond flehentlich in seinem Song "Evermore". Dieses bittersüße Liebeslied, das beteuert, daß die Gefühle weiter brennen werden, komme, was da an Beziehungskatastrophen kommen wolle, ist zentraler Bestandteil des Albums "12 Songs". Mit diesem Werk feierte der passionierte New Yorker im letzten Jahr ein phänomenales Comeback (siehe Besprechung im EVOLVER), with a little help from Rick Rubin.

Oder war es doch ein wenig mehr, was der Produzentenzausel für den großen Songwriter getan hat? Dank Tom Petty, Danzig, Public Enemy und natürlich der "American Recordings" von Johnny Cash wissen wir, daß Rubin verschiedenen Künstlern unterschiedliche, aber doch meist passende Stempel aufdrückt. Und speziell die Cash-CDs weisen mit ihrer ebenfalls starken Intimität eine Nähe zu Diamonds Album auf. Allerdings ist der Mann, der in den 70er Jahren das Brusttoupet in die Pop-Welt einführte und damit an einer "Hot August Night" auf Balztour ging, kein Fall für die Siechenabteilung oder das Sterbehospiz. Im Gegensatz zum Country-Titanen, der meist Lieder anderer Autoren nachgesungen hat, schreibt er im hohen Alter von mittlerweile 66 Jahren immer noch phantastische Songs, die zudem immer noch vital und viril sind. Nichts Neues also seit "Cracklin´ Rosie" oder "Song Sung Blue".

 

Aber wie ist das nun mit dem Einfluß von Rubin? War er es, der das sachte "Evermore" mit bombastischem Zierat versah, sodaß es sich vom eher karg instrumentierten Rest der CD deutlich abhob? Oder war es Diamond selbst, der seinen klingenden Edelstein glatt schliff? Ich dachte, daß wir das nie erfahren würden - und habe mich getäuscht.

Nun erscheinen die "12 Songs" nämlich in einer neuen Ausgabe. Die enthält Rubine und Diamanten, also das Originalalbum und die ursprünglichen Versionen, wie sie Neil in seinem Studio aufgenommen hat. Beim Film nennt man diese Vorgehensweise "Director´s Cut", und man weiß nie, ob der Regisseur uns seine Version zeigen oder der Verleih mit einer weiteren Ausgabe noch mehr Geld verdienen will. Eine Trennlinie zwischen künstlerischer Ambition und ökonomischen Interessen ist schwer zu ziehen, da bei solchen Veröffentlichungen meist beide Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Mancher Fan greift durchaus zu Recht in den Geldbeutel und erwirbt den Film zum zweiten Mal. Lohnenswert ist beispielsweise "Sin City", aber es gibt auch Beispiele für das genaue Gegenteil. So wurde Coppolas "Apocalypse Now" immer wieder neu geschnitten, und jedes Mal dauerte das Kriegsspektakel länger. Das Ende der Fahnenstange sei aber noch lange nicht erreicht, betont der Regisseur immer wieder.

 

Blöderweise - oder Marketing-technisch clever - weiß man als Fan in der Regel nicht, daß es einen "Director´s Cut" geben wird und kauft den Film im Fall des Falles dann doch ein zweites Mal. Oder man will das Werk sofort am Erstverkaufstag haben, wofür man sowieso schon einen höheren Preis zu zahlen hat, weil es die DVD ein paar Wochen später zum "Nice Price" gibt. Aber Frau Columbia und die Herren Fox oder Universal haben keine Hemmungen; die Liebhaber auf dem Medienstrich blechen freiwillig. Im Musikbereich ist diese Vorgehensweise vergleichsweise selten, doch Madame Columbia hat entdeckt, daß sich auch aus der immer noch zahlreichen Anhängerschaft von Neil Diamond noch der eine oder andere Eurone pressen läßt - zumal die ja seit dem Rückzug des Künstlers vom Charts-Alltag ewig auf neue Werke warten muß. Von "Tennessee Moon" bis zur "Three Chord Opera" verstrichen fünf Jahre und von da zu den "12 Songs" immerhin vier. In dieser Zeit entstehen und vergehen anderswo 101 Hypes. Kann Neils "Director´s Cut" also den Fans die Wartezeit verkürzen?

 

Ja, das schafft diese Platte. Sie kann sich durchaus mit der Rubin-Variante messen, wirkt überraschenderweise oft sogar spartanischer, was "Oh Mary" und "Captain Of A Shipwreck" besonders gut steht. Der Hörer konzentriert sich noch mehr als ohnehin schon auf die vertraute und sonore Stimme des Mannes, der trotz des einmaligen Timbres so oft wie kaum ein anderer gecovert wurde: von den Monkees, Frank Sinatra, Bobby Womack, Waylon Jennings, UB 40, John Holt, Johnny Cash, HIM etc.pp. - Diamonds are the Popstar´s best friends - und das genreübergreifend.

Die "12 Songs" covert Neil zunächst mal selber, wobei wir, wenn wir´s unbedingt chronologisch betrachten wollen, zunächst einmal die zweite Version bekommen haben. Was nur wieder logisch ist, weil "produced by Rick Rubin" so spektakulär ist wie hierzulande "übersetzt von Harry Rowohlt"; also ein Kaufgrund für Leute, die noch nie "I Am ... I Said" oder "Sweet Caroline" gehört haben.

 

Zurück zu "Evermore": Über Rick Rubins Version schieden sich die Geister, trennten sich in das Lager derer, die das Schwelgerische für den perfekten musikalischen Ausdruck der zwischenmenschlichen Tragödie hielten, und in die nicht minder große Kritikaster-Abteilung, die Rubins Honigtopf dafür verantwortlich machte, daß die Verzweiflung und Einsamkeit des Textes zugekleistert wurden. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Die Bombastversion kann genauso der Gefühlslage entsprechen wie ein Motown-Song oder ein opulentes Brian-Wilson-Gedeck.

Die nun erhältliche Variante stellt auf jeden Fall mehr den Song in den Vordergrund - es ist nicht mehr das Arrangement, das die Führung übernimmt. Dadurch gewinnen die Textzeilen an Bedeutung. Beklemmend, weil nun ohne jede Spur von Hoffnung, klingen die letzten Worte: "If it´s done for now/And it´s time to go/There´s one thing unsaid/Thought you´d want to know/Love you still ... guess I Will/Evermore."

Ich für meinen Teil liebe auch diese Version von "Evermore"; für mich steht die Entscheidung also fest: In vollem Wissen um kapitalistische Mechanismen erwerbe ich die "12 Songs" erneut, besitze die Rubin-Produktion nun sogar doppelt. Man kann den "Director´s Cut" freilich auch für Abzocke halten und vom Kauf absehen. Das muß jeder für sich entscheiden. Sollte es jemals beide Versionen als Einzeldiscs geben, rate ich dringend, beide komplett durchzuhören und dann erst die Wahl zu treffen. Oder beide zu nehmen. Womit wir schlußendlich wieder am Anfang angelangt wären ...


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Kommentare_

marianne - 08.12.2013 : 09.51
ein echter ohrwurm für die ewigkeit - weiss man ob neil und rubin noch so ein projekt machen werden?
Manfred - 08.12.2013 : 16.18
Hallo Marianne,

es sieht so aus, dass Neil Diamond mit Rick Rubin nochmal ins Studio gehen wird. Angeblich im Frühjahr 2014. So wird es kolportiert. Ich bin jedenfalls gespannt, weil beide Platten gut waren.

liebe Grüße
Manfred
marianne - 08.12.2013 : 23.57
danke für die info!

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