Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 67

Mika: "Grace Kelly"

Ein quietschbunter Bastard sorgt für gute Partystimmung und soll durch sein grelles Wesen die komplette Musikwelt heilen. Manfred Prescher durchschaut den neuesten Hoffnungsträger.    12.02.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.



Was nicht geht, geht einfach nicht. Oder doch? Wie kann es möglich sein, daß sich ein Song auf Platz eins der britischen Charts festsetzt, ohne daß es ihn als Maxi-Single zu kaufen gibt? Seit einiger Zeit werden fast überall auf der Welt die Downloads von iTunes und den anderen Netz-Shops in die Hitlisten eingerechnet - aber ganz ohne "physischen Datenträger", wie das im schnöden Branchen-Slang heißt, schaffte es kein Song wirklich an die Spitze. Spätestens aber, seit alte Elvis-Kamellen oder Tony Christies "Amarillo" den Weg nach oben fanden, deuten sich die Möglichkeiten an, die in der virtuellen Musikverbreitung stecken, zumal die CD-Verkäufe rapide abnehmen. Wenigstens irgendwie als "Single" sollten die Songs jedoch schon gewertet werden, wenn sie im genauso bezeichneten Chart-Ranking auftauchen sollen.

Aber was ist eine Single? Ein Auszug aus einem Großen und Ganzen, das hohe Alleinstellungsmerkmale aufweist? Das ist zumindest der derzeitige Definitionsansatz. Wozu das führt, ist klar: Wenn Apple jetzt wirklich den Katalog des gleichnamigen Labels der Beatles verkaufen darf, wird zum Valentinstag plötzlich "All You Need Is Love" Nummer 1. Und wenn plötzlich eine Schlußmach-Epidemie über Land und Leute hinwegfegt, schaffen es "Angie" von den Stones oder "Yesterday Man" von Chris Andrews auf den Spitzenplatz. Und sollte mal wieder ein Großkonzern die Produktion aus Europa nach Hinterindien verlagern und plötzlich 100.000 Mitarbeiter vor den Hallen- und Bürokomplextüren "freisetzen", wird kollektiv Lennons "Working Class Hero" zum Hit.

Theoretisch kann nun jeder Song in die Top ten gelangen - ob er sich nun unscheinbar auf einem Album versteckt oder nur online erhältlich ist. Das gilt übrigens nicht nur für die Engländer und ihre schon immer schrulligen Charts, sondern soll auch bald beim deutschen Pendant von Media Control so sein. Die Hauptsache ist, daß sich genug Menschen auf einen Song einigen und ihn gemeinsam aus dem Netz saugen.

Mit Mikas "Grace Kelly" haben sie genau das getan. Das Lied rangierte schon ganz oben, bevor die vor kurzem reaktivierte Universal-Tochter Vertigo durch ihre Auferstehung die Rückkehr der 70er Jahre ausrief und daran dachte, das Ding auf CD zu veröffentlichen. Das Internet war praktisch leergesaugt, Cover-Artwork und Künstlerbio geisterten durch die weltweiten Datenstränge, ohne daß jemand ein Booklet aus der Digipack-Pappe schieben konnte.

Der Angriff der Blaumiesen fand zuerst im Web statt. Heimtückisch ging es schon seinerzeit zu, als die legendären Musikhasser auf die Idee kamen, Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band alias The Beatles zu entführen, um endlich ihre Ruhe zu haben. Diesmal fingen sie sich den angeblich hochbegabten Multiinstrumentalisten Mika und versuchten ihn irgendwo zwischen Amazonien und Ebayland vor dem Zugriff durch clevere A&R-Manager und neugierige Pop-Fans zu verstecken. Doch das Netz ist schneller als die Presse und jedes andere Buschgetrommel. Mika setzte sich dort mit der psychedelischen Pracht in Szene, mit der die Fab Four in "Yellow Submarine" wider den tierischen Ernst der Blaumiesen triumphierten.

Ob virtuell oder real - die Cover von "Grace Kelly" oder dem Album "Life In Cartoon Motion" erinnern sehr an George Dunnings überbordende Zeichentrick-Farbphantasie aus dem Jahre 1968. Mittlerweile sind fast 40 Jahre vergangen, die Beatles sind altersbedingt geschrumpft, und jede Menge Songs landeten, kaum gebraucht, zunächst in der Alt-Hit-Tonne, um schließlich in der Deponie zu stranden. Vier Jahrzehnte bieten genug Material für jemanden, der bereit ist, knietief im Pop-Morast zu waten. Und genau das hat Mika mit "Grace Kelly" getan. Ob er ein begnadeter Musiker ist, muß er noch beweisen, aber daß der in England lebende Sproß einer Libanesin und eines US-Amerikaners ein begnadeter Jäger und Sammler ist, steht schon fest. Ein Song genügt als Beleg.

"Grace Kelly" ist eine groovende Mixtur aus wahnwitzigen Zutaten: ein wenig Freddie Mercury in Stimme und Klavierspiel, eine Prise David Bowie, Disco-Sound, der zwischen Sylvester und den Bee Gees oder den Scissor Sisters oszilliert und jede Menge Bubblegum-Einfluß der frühen Siebziger, also Kincade, Barry Blue oder Daniel Boone in sich birgt. Die Melodie ähnelt "See My Baby Jive" von Wizard, aber an dieses Lied, das es im Mai 1973 auf Platz 1 der britischen Charts schaffte, obwohl es weder als CD noch als Download, sondern nur als Polyvinylchlorid-Produkt erhältlich war, erinnert sich sowieso keiner mehr. Die Zeiten sind mit 16.000 Kilobit pro Sekunde viel zu schnell für beinahe jedes Gedächtnis. Wer nicht mitsurft, ist von gestern und kann den Song erst kaufen, wenn er in den Charts auf dem Rückweg ist. Halb so schlimm, meinen Sie? Sie irren, Ihr Lieblingsradiosender treibt das Ding so lange und so oft durch den Äther, daß Sie es schon nicht mehr wollen werden, wenn es dort steht, wo es noch richtige Rolltreppen und hübsche Verkäuferinnen gibt.

Übrigens wirkt Mika selbst wie ein Produkt der Pop-Zitierkunst - und das nicht nur, weil er "in echt" Mica Penniman heißt und sich den Nachnamen mit dem großen Little Richard teilt. Nein, er sieht aus, als wäre er im Klonlabor aus Zellen von Adam Green, James Blunt und Tokio Hotels Billy Boy Bill entstanden. Irgendwie knuffig ist der Typ trotzdem. Genau wie "sein" Song.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Mika - Life In Cartoon Motion


Universal Music (GB 2007)
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