Kolumnen_Miststück der Woche IV/34 - Leserwunsch #44

R.E.M.: "Seven Chinese Brothers"

Michael Stipe war das ziemlich beste Gewissen des US-Rock. Seine Band schaffte den Sprung vom Indie-Helden-Kult zu Großverdienern, die Stadien füllten - und sich dabei treu blieben. Die Crux: Ihre Alben waren samt und sonders großartig, verkauften sich aber sukzessive immer schlechter. Der Leserwunsch stammt aber aus der Frühzeit von R.E.M. und klingt für Manfred Prescher etwas zu dudelig.    13.07.2015

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Drei Chinesen mit dem Kontrabaß saßen auf der Straße und erzählten sich was. Dabei ging es vermutlich - selbst wenn man die "dro Chonoson mot dom Kontroboß" dazurechnet - sicher ruhiger zu als bei diesem doch eher quietscheligen Song. Bei dem wird dann das vor sich hinmäandernde Jammern Stipes, das viele Lieder der in Athens/Georgia gegründeten Band charakterisiert, zu einem doch partiell recht schrägen Gequengel bzw. Gezeter.

Aber da werf´ ich nicht mit dem Stein in Richtung St. Michael, denn dieser grundlarmoyante, ins Dissonante lappende Tonfall ist mir sehr vertraut. Da müßt ihr nur mal die beste Liebespartnerin von allen fragen. Die würde in Momenten, wo meine ansonsten recht sonore Stimme so ins Nervige kippt, am liebsten mindestens nach Obereinherz fliehen.

Doch Michael Stipe ist eben einfach Michael Stipe. Sein Gesang kann einen nerven, aber man kann ihn auch lieben. Man kann in eher schwächeren Liedern wie diesem sogar beides gleichzeitig. Schließlich bringt er sein ganzes Können ein: die kraftvolle Coolness, die auch bittere Wahrheiten zu illustrieren weiß, und die perfekte Beherrschung der Bosch-Nervensäge.

Chinesen ohne Kontrabaß: Das Lied ist so typisch R.E.M., wie es nur geht. Es gibt halt nur bessere, etwa "What´s The Frequency, Kenneth?", "It´s the End Of the World As We Know It (And I Feel Fine)” oder auch "Drive" bzw. das insgesamt unermeßlich geniale Jammerlappen-Album "Automatic For The People” - da suche sich jeder seine persönlichen Favoriten raus. Ist ja genug Material, auf insgesamt 15 Studiowerken verteilt, vorhanden. Woran R.E.M. letztlich dann doch scheiterten, wie auch Herr Stipe mittlerweile betont, könnt ihr in diesem "Miststück" nachlesen, das ich euch auf euren Gedächtnistornister legen möchte.

 

 

Aber wie war das mit den Chinesen? Als im April 1984 die zweite R.E.M.-LP "Reckoning" und mit ihr der Song von den sieben Menschen aus Fernost herauskam, war in Peking seit einem guten Jahr der vergleichsweise junge, aber doch auch schon fast siebzigjährige Jiang Zemin am Ruder. Die Welt hatte Angst vor dem immer weiter wachsenden, sich wirtschaftlich rasch entwickelnden Gelben Riesen mit Riesenkaufkraft - und wir Deutschen zitterten erst recht. Schließlich hatte der Chinese längst bewiesen, daß er das Pulver erfunden hat, er baute beispielsweise (im direkten Vergleich deutlich erkennbar) die längere und auch deutlich haltbarere Mauer. Nur zum Beispiel. Und er würde, so kolportierte man, uns die Ideen klauen und sie sich gottgleich untertan machen. Das erklärt die schwächeren Kolumnen, die es aber eh nicht gibt: die sind im Reich der Mitte im Kreativpool gelandet. Mittlerweile ist China jedenfalls so reich, daß es alle DAX-Unternehmen auf einmal aufkaufen könnte und dann sogar noch das Allgäu, Vorarlberg und die Nordschweiz mit "Nr. 54" (Schweinefleisch süßsauer) komplett überschwemmen könnte.

Man sprach anno 1984 nicht mehr vom "Big Brother", sondern von der "Gelben Gefahr" durch Menschen, die uns Europäern laut dem Monty-Python-Song "I Like Chinese" nur bis zu den Knien reichen. Und obwohl wenn der ferne Osten immer noch - wenn auch langsamer - wächst, der Kapitalismus hat längst entdeckt, daß es bei mehr als einer Milliarde Menschen sicher eine große Zahl potentieller Kunden für Luxusautos mit dem Stern, deutsches Bier oder Mozartkugeln geben muß. Die gelbe Gefahr geht mittlerweile tatsächlich von einem anderen Volke aus: von den Minions.

Um die wird es rein zufällig in der nächsten Ausgabe dieser Kolumne gehen, denn der Leserwunsch der kommenden Woche dreht sich um ein Lied, das recht prominent im bestens animierten Film um die grenzdebilen Chaoten plaziert ist. Ich schreibe dann über die Beatles und ihr "Got To Get You Into My Life". Es wird mir eine Freude sein, darüber zu texten, daß es nur so durch den EVOLVER stipet, denn ich habe auch jemanden in mein Leben gelassen. Und weil ich mit dieser Person ein paar nette Minuten im wärmenden Licht der Nachmittagssonne verbringen will, endet diese Kolumne hier.

Euch "Shiny Happy People" wünsche ich weder eine gelbe, noch eine grüne oder sonstwie gefärbte Gefahr. Und keine Angst: Andere Menschen aus anderen Ecken tun uns in der Regel nichts. Die verlassen ihr "Private Idaho" (B52´s), ihr "Graceland" (Paul Simon), ihr persönliches Kleinwalsertal oder ihr sagenhaftes Land "Kizmiaz" (Cramps) meist eh nicht freiwillig ...

Manfred Prescher

R.E.M.: "Seven Chinese Brothers"

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Enthalten auf der CD "Reckoning - The I.R.S. Years Vintage 1984" (I.R.S. Records/EMI)

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