Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 27

Santogold: "L.E.S. Artistes"

Es heißt "Geld regiert die Welt", doch Roger Cicero behauptete immer, daß die Macht bei den Frauen liegt. Manfred Prescher ist sich jedoch sicher, daß der Planet ausschließlich von Ignoranten beherrscht wird.    02.06.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Gestern in München: Ein paar tausend Leute pilgern zu einem der letzten aktiven Götter des Full-Size-Entertaiments: Neil Diamond. Und der Las-Vegas-erprobte Sänger, Songwriter und Superstar gibt den Menschen, was sie sonst kaum noch bekommen - eine perfekte Show mit echt komponierten Liedern. Das Publikum in der gut besuchten Olympiahalle war logischerweise nicht mehr taufrisch, es gehörte mehrheitlich den so genannten "weißen Jahrgängen" an, also denen, die im oder kurz nach dem großen vaterländischen Krieg geboren wurden.

Diese Vorruheständler sind eben nicht mit Horst Wessel, sondern eher mit Elvis oder Neil Diamond aufgewachsen. Daß die Halle nicht völlig ausverkauft war, lag zum einen an den horrenden Ticketpreisen, zum anderen aber auch daran, daß es eher schwer ist, die Alten vom Sofa wegzuziehen. Doch das waren nicht die einzigen Gründe. Auch die Ignoranz, die sich quer durch alle Gesellschafts- und Altersschichten zieht, trug dazu bei, daß etliche Sitze leer blieben. Was gut ist, wird in der Regel von wenigen Menschen goutiert. Die ziehen dann in den heiligen Krieg und missionieren, was das wohlklingende Zeug hält, bis sie sich - von der allgegenwärtigen Ignoranz besiegt - in ihr Trendsetter-Türmchen zurückziehen. Oder sie halten sich von vorneherein (zu Recht) für Snobs und grenzen die Masse aus. Blöderweise kriegt die das aber nicht mit, was dem Snobismus die hedonistische Spaß-Grundlage entzieht.

Und weil die Mehrzahl der Österreicher und Deutschen selbst mit einem völlig "normalen" Song, also einem, der über eine catchy Hookline, einen einprägsamen Refrain mit sich ebenso klar im Gedächtnis verankernden Zeilen ("good times never seems so good") nichts anfangen kann bzw. überhaupt nichts von dessen Existenz weiß, hat der Gott des Pop vor Jahr und Tag den Musikredakteur erfunden. Der soll seinen scharfen Verstand, absolute Geschmackssicherheit, jede Menge Wissen um Details und Zusammenhänge, um Stile und die Trends von morgen, sowie seine Persönlichkeit in die Waagschale werfen. Das tun die Kollegen, für die ich hier ein für allemal eine Lanze brechen will, unermüdlich. Aber weil die Ignoranz mindestens so stabil alle Zeiten überdauert wie Adis Reichsparteitagsgelände, hatte es die Musikpresse hierzulande immer schon schwer. "Musik Express" und "Rolling Stone" teilen sich gerecht eine verkaufte Auflage von 120.000 Exemplaren (IVW) - und wenn man davon ausgeht, daß Leute wie ich gleich beide Hefte kaufen, dann wird die tatsächlich erreichte Gruppe noch einmal kleiner. Da kann man Reichweiten berechnen und Zahlen interpretieren, wie man will, guter und geschmackssicherer Musikjournalismus ist hierzulande eher ein Treppenwitz. Allerdings einer, der immer wieder weitererzählt werden sollte.

 

Schließlich haben die erleuchteten paar Zehntausend auch ein Grundrecht, "artgerechte" Information zu bekommen. Dadurch mag zwar die Schere zwischen Interesse und Ignoranz noch weiter auseinanderklaffen, aber das merkt schon lange keiner mehr. Wer selbst Neil-Diamond-Hits für Affenmusik hält, ist schließlich ein ebensolcher Geschmackszombie wie der, der die Musik von Dieter Bohlens dressierten Affen kauft oder aus dem Netz saugt. Die Gefolgschaft von Medlock oder meinethalben Silbereisen läßt sich sowieso nicht mehr missionieren - der Zug ist schon abgefahren, als die Kollegen Stollberg und Gockel mit samt ihren talentierten Teams noch in Sam Phillips´ Wurstkessel herumschwammen.

Wir "Eingeweihten" erfreuen uns natürlich an den Tips der Redakteure, zum Beispiel an der "Platte des Monats" Juni, die uns der "Musik Express" kredenzt, an "Santogold" von Santogold. Die CD ist natürlich viel zu gut für die schnöde Welt, auf der wir uns herumtreiben, und wird schon daher nur in unserer Nische rezipiert. Das gilt leider auch für die herrlichen Worte, die der Rezensent gewählt hat. Andreas Sawatzki, übernehmen Sie: "In 'L.E.S. Artistes' lauschen wir der Wiederauferstehung des Power-Pop aus den Ruinen des Gospels, im Remix von 'You´ll Find A Way' fällt der R´n´B in eine Echokammer, die seit den letzten Sessions von King Tubby nicht mehr geöffnet worden ist. Es dröhnt in diesen Minuten so fremd" etc pp.

Das fremde Dröhnen rührt natürlich nicht davon, daß sich Sawatzki ums Verrecken nicht mehr an Tubbys Beats erinnern kann, sondern kommt, weil Santi Gold, die Frau hinter Santogold, alle möglichen Einflüsse zu einem sehr eigenen und vielschichtigen Groove verbindet. Soul, Funk, Disco, R´n´B, Dub, Spurenelemente von Punk, HipHop-Loops - Tracks wie "L.E.S. Artistes" sind solch wilde, aber in sich geschlossene Mixes, daß es selbst gestandene Musikjournalisten umhaut. Sawatzkis Fazit für aufgeschlossene Fans kann ich mich daher nur anschließen: "Ich habe das Album immer wieder gehört und weiß vor lauter Aufregung heute noch nicht, wo ich mit diesem Songdutzend bin. Ich weiß nur: So hört sich das erste Mal an. Ohne 'Santogold' wird kein 'Best Of´'dieses Jahres geschrieben werden." Good Songs seems halt never so good. Wir Eingeweihten wissen nun, was wir in diesem Sommer hören werden, dem Rest geht Santogold ohnehin am Bürzel vorbei.

Wahrscheinlich gilt das auch für die Kollaboration, über die ich nächste Woche an dieser Stelle schreiben werde - das Duett von Paul Weller und Noel Gallagher. Aber wer offene Ohren hat und damit den beiden Stilvorbildern lauschen will, der sollte auch das "Miststück" dazu lesen.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Santogold - Santogold

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Lizard King/Rough Trade (USA 2008)

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