Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 94

Sean Kingston: "Beautiful Girls"

"Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau´n" - eine Reggae-Version dieses Themas ist in den USA der heurige Sommerhit. Da schmilzt selbst Manfred Prescher dahin wie "Ice In The Sunshine".    20.08.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

"Schön und kaffeebraun sind alle Frau´n in Kingston Town", sang vor einem halben Jahrhundert der Alpen-Hallodri und spätere "Hafen-Casanova" Vico Torriani. Das klingt wirklich verlockend - doch was ist dieses ominöse Kingston? Ist es die "Paradise City, where the girls are pretty"? Schon möglich. Und wo ist es? Also einmal am Globus gedreht und nachgeschaut: Kingston liegt im Südosten der Karibikinsel Jamaika, daher dürfte das mit den kaffeebraunen Mädels auch seine Richtigkeit haben. Die Stadt hat 660.000 Einwohner, also sollten dort auch einige Schönheiten wohnen.

In diesem Sommer jedoch hat Kingston eine Filiale - und die ist weiter nördlich angesiedelt, in Miami/Florida. Dort lebt nämlich Kisean Anderson, ein nicht mal 18jähriges Milchbubi. Der Junge wuchs in Jamaika auf, und als er von dort in die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten aufbrach, nannte er sich praktischerweise Sean Kingston. Ohne einen Ton von ihm gehört zu haben, weiß nun jeder sofort, wo der Mann den Riddim herholt und daß er von der Insel mit den kaffeebraunen Schönheiten kommt.

Und tatsächlich: Sein "Beautiful Girls" ist ein moderner Reggae mit Dancehall-, Doo-Wop- und Soul-Einfluß, eine Capuccino-Version von Laid Backs "Sunshine Reggae", die von den aktuellen Jamaica-Sounds so weit entfernt ist wie Shaggy von Bob Marley oder Lee "Scratch" Perry von Shabba "King of Dancehall" Ranks. Dessen in tanzbare Breaks gekleidete, männliche Wunschvorstellung "Trailer Load Of Girls" ist auch textlich nicht so weit von Sean Kingstons absoluter US-Nr. 1 "Beautiful Girls" entfernt: "Damn all these beautiful girls/They only wanna do your dirt/They´ll have you suicidal, suicidal/When they say it´s over". Während Shabba aber das Leben genießt und mit hedonistischem Anspruch durch die Damenwelt mäandert, weint der US-jamaikanische Teenie praktisch allen Verflossenen hinterher.

Das Bürschchen muß sich noch entwickeln, wenn es ein echter Dancehall-Star werden will. Nicht daß das von Miami aus nicht ginge - die Florida-Metropole ist ein Zentrum für Karibik-Styles. Und Kisean Anderson ist nicht der einzige Einwanderer mit karibischen Wurzeln. Aber einen lockeren Umgang mit den Ladies muß er lernen, nur so wird Babyface Sean zum echten "Mr. Loverman". Das Motto eines verbalen Ladykillers ist seit jeher "ob blond, ob braun/Ich liebe alle Frau´n/Mein Herz ist groß". Diese Losung gab Jan Kiepura bereits 1935 im Film "Ich liebe alle Frauen" aus. Er sang damals für die nachfolgenden Männergenerationen und kündigte ihnen an, was irgendwann passieren muß: Dann kommt die eine ... Aber Kiepura spielte den erfahrenen Liebhaber, einen weitgereisten Verführer, dessen U-Boot kurz darauf nicht mehr im Hafen von Kingston, sondern in dem der Ehe anlegte. So erging es später auch Cliff Allister MacLane, der mit seiner "Orion" sogar auf dem Frauenplaneten Chroma landete, nur um dann in der letzten Folge bei Tamara Jagellovsk zu bleiben - wahrscheinlich für immer, denn es gab keine weiteren Fortsetzungen der Serie.

 

Sean Kingston steht allerdings erst am Beginn seiner Karrieren - sowohl als Sänger als auch als Liebhaber. Trotzdem fragt er sich, wie so viele vor ihm: "Where have all the good times gone?" Und glaubt in adoleszentem Unterschwung, daß das Liebesleben ein für allemal vorbei sei. Witzig ist dabei, daß das Bussibärchen auf cool und erfahren macht: "It was back in ´99 ... For doin´ my first crime". Damals war Sean gerade mal neun Jahre alt und hat allerhöchstens der Lehrerin unter den Faltenrock geschaut, dem Mitschüler die Zwischenmahlzeit geklaut und mit dicken Pausbacken heruntergeschlungen. Der Typ sieht auch heute noch eher nach Muttis Liebling und keuscher vorehelicher Zurückhaltung als nach Gangsta-Rapper und Orgien-Zampano aus.

Sein Song ist aber trotzdem herzallerliebst. So schunkelt es sich prima durch den Sommer, mit Bacardi-Feeling und einer hübschen Brise aus der Südsee-Windmaschine. Das ist zwar längst nicht so unwiderstehlich wie Shaggys Ska-Remake "Oh Carolina", aber doch so nett, daß man automatisch mitgroovt in diesem Musikantenstadl-Hit der Globalisierungs-Ära. Mit der Monstermelodie und dem bewährten Sample von Ben E. Kings Atlantic-Gassenhauer "Stand By Me" wird jeder Baggersee zum karibischen Meer und jede Liegewiese im Freibad zum Strand von Montego Bay. Bleibt zu hoffen, daß es nach dem 31. August noch warm genug für "Sommer, Sonne, Sonnenschein/Zieh´ ich mir furchtbar gerne rein" ist. Dann erst bringt SonyBMG nämlich den Song, zu dem Amerika schon jetzt durch die warme Jahreszeit swingt, auch in Deutschland und Österreich auf den Markt.

Über die Unzulänglichkeiten der Branche habe ich anderer Stelle (zum Beispiel in Miststück, Pt. 89) schon genug geschrieben. Vielleicht eines noch zu diesem speziellen Fall: Wahrscheinlich will SonyBMG nicht, daß Otto Normalpop-Konsument statt des Medlock-Bohlen-Schwanengesangs ein im Vergleich geradezu geniales Ragga-Muffin kauft - was irgendwie schade ist, aber das düstere Bild der Branche noch deutlicher zeichnet. Wer auf intelligente TV-Unterhaltung steht, wird sich allerdings sowieso über kurz oder lang an "Beautiful Girls" gewöhnen: Der Song dient auch als Trailer für die komplette vierte Season rund um die Erlebnisse der Damen aus der Wisteria Lane.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

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