Stories_Deep Down

Steirer in der Unterwelt

Das Höhlenforscher-Ehepaar Ingrid und Heinrich Kusch aus Graz erkundet seit einigen Jahrzehnten mysteriöse Gänge und Kammern, die auf die Existenz früherer Zivilisationen hinweisen - oder auf fremde und längst vergessene unterirdische Welten. Peter Hiess hat die beiden ins Erdinnere begleitet.    02.12.2013

Ich bin alleine. Ein paar Meter unter der Erde, in einem finsteren, hundert Meter langen Gang. Ich stehe genau in der Mitte, links und rechts von mir nur Schwärze. Die anderen haben den mysteriösen unterirdischen Bau verlassen, ihre Helmlampen sind längst erloschen. Ich höre nichts, außer das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren. Ich kämpfe gegen meine plötzlich gar nicht mehr latente Klaustrophobie, gegen die kindliche Angst vor der Dunkelheit. Mir graut vor den Hundertfüßlern und Spinnen, die ich gesehen habe, als meine Lampe noch eingeschaltet war. Niemand weiß, wer diesen Gang in den Fels geschlagen hat - und vor allem, wann und wozu. Am hinteren Ende haben sich im Zweiten Weltkrieg ein paar Soldaten verewigt, mit Totenkopf und Hakenkreuz. Der Einstieg wird von ganzen Armeen bissiger Waldameisen geschützt. Ich vergesse mehr und mehr, daß irgendwo da draußen die Sonne vom Himmel brennt. Es ist angenehm kühl hier drinnen. Wenn ich mich bewege, hallen seltsame Echos von den Wänden wider.

Als die Lichter der anderen wieder näherkommen, atme ich erleichtert auf.

 

"Schätzungen deuten darauf hin, daß dieser Gang in prähistorischer Zeit in den Berg geschlagen wurde", sagt der Prähistoriker und Höhlenforscher Heinrich Kusch, der uns in diese unterirdische Passage in der steirischen Gemeinde Puchegg geführt hat. "Ob er wirklich aus der Megalithkultur stammt, also 3500 bis 6500 Jahre alt ist, oder vielleicht auf noch ältere Kulturen zurückgeht, das müssen wir erst verifizieren. Wir hatten jedenfalls einen Geologen und einen Spezialisten hier, die über die Bearbeitungsspuren an den Wänden der Anlage sagten, daß sie aussehen wie von einer modernen Steinfräse verursacht. Selbst wenn der Gang also nur ein paar Jahrhunderte alt wäre, wie manche vermuten - damals hatte mit Sicherheit niemand solche Geräte. Und in der Jungsteinzeit schon gar nicht ..."

Kusch zieht es seit mehr als 50 Jahren unter die Erde, in einen der wenigen Bereiche unseres Planeten, der noch fast unerforscht ist. Schon als Kind streifte der Steirer mit seinen Freunden gern durch alle möglichen unterirdischen Gänge und Anlagen. Heute ist der drahtige Indiana-Jones-Typ - nach einem Zwischenspiel als heimischer Rockstar am Ende der Sixties - Lehrbeauftragter am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde der Grazer Karl-Franzens-Universität. Sein Hauptinteresse gilt jedoch der "Anthropospeläologie", einer Kombination aus Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen) und Speläologie (Höhlenkunde). "Die Beziehung von Mensch und Höhle hat mich immer schon fasziniert", sagt er.

 

Heinrich Kuschs Frau Ingrid ist ebenfalls passionierte Höhlenforscherin - sie haben sich "vor 40 Jahren unter der Erde ineinander verliebt". Seit mehr als zwei Jahrzehnten widmen sich die beiden nun dem in Mitteleuropa weitverbreiteten Phänomen der "Erdställe". Dieser Begriff scheint erstmals Mitte des 15. Jahrhunderts auf und hat nichts mit der Unterbringung von Tieren zu tun, sondern mit einer Stelle oder einem Stollen unter der Erde. Meistens handelt es sich um unterirdische Gänge und Kammern, die sowohl in Sandstein und verfestigtes Erdreich, aber auch in Tiefengestein wie massiven Granit oder Basalt gegraben sein können. Sie sind fast immer halbrund oder spitzbogenförmig und ein bis zwei Meter hoch. In vielen Fällen wurden die ursprünglichen Felsgänge mittels Trockensteinmauern befestigt und mit schweren Decksteinen vor dem Einsturz gesichert. Entdeckt wurden sie in jüngerer Vergangenheit fast immer bei Hauserweiterungs- oder Feldarbeiten, wenn bei den Bauern ein Stück Boden einbrach und sich plötzlich ein Gang oder eine unterirdische Kammer öffneten. Die schüttete man dann oft gleich wieder zu, um sich die lästigen Archäologen vom Leibe zu halten und in Ruhe weiterarbeiten zu können.

 

Erstmals untersucht und beschrieben wurden die Erdställe vom Benediktiner-Pater Lambert Karner aus dem Stift Göttweig, der sich in seinem 1903 erschienenen Buch "Künstliche Höhlen aus alter Zeit" vor allem mit den Funden in Nieder- und Oberösterreich, Bayern und Mähren befaßte. Bis heute begehen Heimatforscher diese Gänge, vermessen sie und graben sie weiter aus; in Bayern erscheint sogar einmal jährlich eine Fachzeitschrift unter dem Titel "Der Erdstall".

Den Zweck der Anlagen kennt aber bis heute niemand so genau - ebensowenig wie ihr Alter. Manche vermuten, daß es sich um Fluchthöhlen gehandelt hat; dagegen spricht aber, daß ein Angreifer nur ein Feuer vor dem einzigen Eingang hätte legen müssen, um die Flüchtlinge auszuräuchern. Andere Wissenschaftler wieder behaupten, es hätte sich um Vorratskammern oder Müllgruben gehandelt. Allerdings wären die oft feuchten Kammern für die Lagerung von Lebensmitteln denkbar ungeeignet und der bauliche Aufwand für solche Zwecke äußerst hoch gewesen. Der Oberösterreicher Josef Weichenberger berichtete in einem Artikel anhand eines eigenen Experiments, wie mühsam und aufwendig es ist, selbst einen Erdstall zu graben - und das mit modernen, leistungsfähigen Geräten:

"Nach dem anstrengenden ersten Arbeitstag war der Gang nur zehn Zentimeter tief. Der nächste Tag hatte zehn schweißtreibende Arbeitstunden, in denen ein Vortrieb von 15 bis 20 Zentimeter erzielt werden konnnte; das entspricht einer Wochenleistung von circa einem Meter Ganglänge."

Es muß also sehr viele Menschen sehr viel Zeit gekostet haben, diese Gänge zu graben. Seltsam nur, daß es darüber keine Aufzeichnungen gibt. "In der Neuzeit, also ab etwa 1500, wurde ja alles dokumentiert", sagt Kusch. "Jeder große Arbeitsauftrag durch Kirche und Adel ist in den Chroniken des Klosters belegt, so wie auch der damalige Bergbau. Wenn in dieser Zeit irgendwelche unterirdischen Anlagen gebaut worden wären, müßten wir also Dokumente darüber finden."

Aber vielleicht gab es ja Mächte, die das Wissen über die "Geheimgänge" - und vor allem darüber, wohin sie führen - verschwinden lassen wollten. Wenn es ihnen auch nicht gelungen ist, alle Spuren zu beseitigen ...

 

Ich krieche durch einen engen Gang in der Erde, auf kühlem Sandboden. Hier drinnen ist die Temperatur zu jeder Jahreszeit gleich, hat man mir vorher gesagt, und ich fühle mich geborgen und friedlich, weit weg von Notizblöcken, Interviews und Fotoausrüstung. Ich versetze mich innerlich in eine Ära vor ein paar tausend Jahren, als die Landschaft hier noch ganz anders aussah und kein Mensch "Steinzeit" sagte - schon deshalb, weil es nur ganz wenige Menschen gab, aber dafür sehr viele Steine. Doch die unterirdischen Pfade und runden Kammern, in denen man sich vor den Schrecken der Welt da oben zurückziehen konnte, gab es damals schon. Sie waren bereits da, als meine Vorfahren in diese Gegend kamen. Und sie führen tief unter die Hügel, erstrecken sich viele Tagesreisen weit ins Innere der Berge, sind mit Luftschächten versehen und warten nur darauf, daß sich jemand in sie vorwagt und die ewige Dunkelheit nicht scheut. Dorthin, wo mythische kleine Gestalten aus uralter Zeit leben, die uns heute noch manchmal ihre geisterhaften Lichter an die Oberfläche schicken; in die Kavernen unter der Erde, aus denen manchmal so seltsame Geräusche zu hören sind.

Plötzlich erschrecke ich und kehre um. Es gibt Dinge, die nicht für uns gemacht sind. Und auch nicht von uns.

 

Zur Fortsetzung ...

Peter Hiess & Heidelinde Moser

Steirer in der Unterwelt

ursprünglich erschienen in der Zeitschrift "2012"


Photos: Kurt Prinz

 

 

Erinnern Sie sich noch, daß vergangenes Jahr eigentlich die Welt hätte untergehen sollen?

Die österreichische Zeitschrift 2012 - Das vielleicht letzte Magazin der Welt begleitete ihre Leserschaft Monat für Monat auf dem Weg ins Verderben und versorgte sie journalistisch mit den wirklich wichtigen Themen im Leben.

Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) einige ausgewählte Beiträge aus dem Heft.

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