Stories_Steirer in der Unterwelt, Pt. II

Von nun an geht´s bergab

Ist die Wahrheit wirklich irgendwo da draußen - oder befindet sie sich ein paar Etagen tiefer? Peter Hiess begleitete Ingrid und Heinrich Kusch bei ihren Expeditionen in die Tiefe.    09.12.2013

Das Höhlenforscher-Ehepaar Ingrid und Heinrich Kusch aus Graz erkundet seit einigen Jahrzehnten mysteriöse Gänge und Kammern, die auf die Existenz früherer Zivilisationen hinweisen - oder auf fremde und längst vergessene unterirdische Welten.

Lesen Sie hier, wie alles begann.

 

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Ein klarer Sommertag, Ende Juni, mitten im Joglland. Wir marschieren mit Ingrid und Heinrich Kusch durch die idyllische Hügellandschaft rund um Vorau, wo wir Steine betrachten. Allerdings keine gewöhnlichen Steine, sondern riesenhafte, zum Teil längst umgekippte Menhire und kleinere Steinblöcke, die zum Teil immer noch auf den Wiesen und am Feldrain herumstehen. Auch solche Spuren der Vergangenheit finden sich in ganz Europa, sind aber hier in der Oststeiermark anscheinend besonders stark vertreten.

Die bis zu zwei Meter großen senkrechten Exemplare werden als Lochsteine bezeichnet, weil sie - spitz zulaufend und zu einem Drittel oder der Hälfte im Boden eingegraben - durchbohrt sind. Ursprünglich waren die Löcher rund, manche wurden aber auch in späteren Jahrhunderten zu Rechtecken oder Quadraten umgeformt, da die Lochsteine häufig als Grenzsteine dienten. Für die Kuschs sind diese wahrscheinlich aus vorgeschichtlicher Zeit stammenden Relikte "Torhüter zur Unterwelt", weil sie oft an Orten aufgestellt wurden, die Eingänge zu den Gangsystemen markieren.

"Einst waren hier viele hundert, wenn nicht tausend zum Teil tonnenschwere Menhire in der Landschaft aufgestellt", sagt Kusch. "Die waren sicher nicht leicht zu transportieren, also muß es einen Grund gegeben haben, daß man sie aus dem Fels gebrochen und über die ganze Gegend verteilt hat. Viele der Lochsteine wurden seither versetzt oder umgeworfen. Die paar, die an den Originalstandorten geblieben sind, deuten häufig auf den Eingang in eine unterirdische Anlage hin. Der Blick durch das Loch zeigt zudem genau die Richtung an, in der ein Gang verlaufen ist beziehungsweise wo der nächste Einstieg in die Unterwelt liegt. Es könnte sich dabei um ein uraltes Informationsnetz gehandelt haben."

An vielen dieser Stellen finden sich heute Marterln und kleine Kapellen, in deren Mauern und Umfassungen die Steine manchmal sogar integriert wurden. Das könnte nach Ansicht der Kuschs daran liegen, daß die Kirche schon bald nach dem Beginn der europäischen Christianisierung daran ging, alles "Heidnische" zu verbannen, also steinerne Monumente zu zerstören oder sie für den neuen Glauben zu adaptieren, indem man gleich neben ihnen katholische Sakralbauten errichtete. So wurden die alten "Kultplätze" der Heiden instrumentalisiert; Beispiele dafür sieht man heute noch: etwa bei den vielen Lochsteinen, die Wanderweg-Markierungen tragen, oder bei dem Menhir am Straßenrand, gleich neben der Vorauer Ortstafel, der von einem Werbeplakat für eine kirchliche Veranstaltung beinahe völlig verdeckt wird.

Im Augustiner-Chorherrenstift Vorau nahm auch die derzeitige intensive Forschungstätigkeit des Ehepaars Kusch im Oktober 2006 ihren Anfang. Bis dahin hatten sie noch keine 40 Zugänge zu Erdställen entdeckt, von denen die meisten aber verschlossen und nicht begehbar waren. Die vielen Geschichten über kilometerlange unterirdische Gänge, die einst Klöster, Burgen und Kirchen miteinander verbunden haben sollen, hielten sie für Phantasiegespinste. Erst durch die Kopie eines Plans aus dem 15. Jahrhundert, die in einer Kanonenkugel versteckt war und beim Umbau eines Bauernhauses entdeckt wurde, stellen die Kuschs fest, daß ihr Forschungsgebiet bisher ungeahnte Dimensionen erreichen könnte: Die handgezeichnete Skizze zeigt ein vom Stift Vorau ausgehendes, viele Kilometer langes Netz von Gängen, die in Berge hinein, unter Tälern hindurch und tief ins Erdinnere hinab führen.

"Das war ein Schlüsselerlebnis für uns", sagt Kusch. "Zwei Jahrzehnte lang war die Echtheit dieses Plans angezweifelt worden. Als wir aber dann immer mehr der eingezeichneten Eingänge in das Gangsystem lokalisieren konnten, wurde uns klar, daß es sich hier um ein Phänomen handelt, das die gesamte Oststeiermark sowie Teile der Weststeiermark betrifft - und auch mit den bisher von uns untersuchten Erdställen zu tun hatte."

Seit damals haben Ingrid und Heinrich Kusch 385 unterirdische Anlagen in der Oststeiermark verzeichnet, von denen allerdings viele wieder zugeschüttet wurden. "Die Objekte wären heute noch da, man müßte sie nur ausgraben", zeigt sich der Höhlenexperte begeistert. "Und wir schätzen, daß es noch einmal so viele unentdeckte gibt. Wir haben bereits 4300 Meter begehbare unterirdische Gänge dokumentiert!"

 

In einem dieser Gänge sind wir gerade unterwegs. "Begehbar" ist in diesem Fall übertrieben - den Großteil seines insgesamt 20 Meter langen Verlaufs müssen wir auf allen vieren zurücklegen, weil der Gang stellenweise keine eineinhalb Meter hoch ist. Der Boden ist schlammig, in den Tagen zuvor hat es nämlich stark geregnet. Der Gang beginnt im Keller eines Bauernhofs in der Gemeinde Riegersbach hinter einer massiven Steinmauer, windet sich in einigen Metern Tiefe s-förmig um einen Brunnenschacht und verläuft unter zwei Gebäuden. Dann hört er plötzlich auf, wieder vor einer Steinmauer. Was dahinter ist, bleibt ein Geheimnis ... vorerst.

 

"Wir vermuten, daß es hinter der Steinmauer noch weitergeht", sagt Ingrid Kusch, "weil es auf dem Grundstück auch mehrere Stellen gibt, wo der Boden eingebrochen ist - und zwar genau in der Richtung der unterirdischen Anlage. Der Gang muß irgendwann zugemauert worden sein; wir haben versucht, die Länge der Verfüllung zu sondieren, aber nach drei Metern setzte sich die Mauer immer noch fort."

Warum der eindeutig von Menschen gegrabene Gang so aufwendig verschlossen wurde, das ist eine Geschichte, die einem Roman von Dan Brown entstammen könnte. Irgendwann in den 80er Jahren wurde in den Archiven des Stifts Klosterneuburg - ebenfalls einem Kloster der Augustiner-Chorherren - ein Dokument aus dem 16. Jahrhundert entdeckt, in dem die Pater aus Vorau die Anordnung erließen, sämtliche unterirdischen Gänge und Kammern der Region zuzuschütten und zuzumauern, um die Versammlungsplätze urchristlicher Sekten zu verschließen. Der österreichische Prähistoriker Johannes-Wolfgang Neugebauer erwähnte dieses Schriftstück in einem Aufsatz; das Original verschwand jedoch danach auf unerklärliche Weise. Aus derselben Zeit stammt ein Protestschreiben der Bürger von Vorau und Umgebung an den Bischof von Graz, in dem sie sich über die mit der Zuschüttung verbundene Arbeit beschwerten; dieses Dokument ist zwar im Korrespondenzregister des geistlichen Würdenträgers eingetragen, aber physisch nicht mehr vorhanden. Und dann soll es im Stift Vorau selbst eine Handschrift über die Gänge unterhalb des Klosters und seiner - bis heute verschollenen - Krypta gegeben haben, die ebenfalls nicht mehr auffindbar ist. Sieht so aus, als hätte da jemand Beweise beseitigen wollen ...

 

"Es muß jedenfalls irgendeinen für die damaligen Menschen vernünftigen Grund gegeben haben, warum diese Anweisung ergangen ist", spekuliert Heinrich Kusch. "Schließlich befördert doch niemand einfach zum Spaß Hunderte Tonnen Material, um es in diese Höhleneingänge reinzuschütten. Vielleicht ist man ja beim Bau der Krypta oder bei der Erforschung der damals bekannten Gänge auf etwas Seltsames und Unerklärliches gestoßen, das nicht ins Weltbild dieser Zeit gepaßt hat."

Als wir aus dem schlammigen Gang unter seinem Hof wieder an die Oberfläche gestiegen sind, sagt der 92jährige Altbauer Othmar K., der gerade mit seinem Hund draußen in der Sonne sitzt, mit einem weisen Schmunzeln: "Die alten Leut´ haben sich geplagt und alles mit der Hand gegraben."

Wenn sie sich die Mühe auch in der kleinen Streusiedlung Pongrazen gemacht haben, müssen sie wohl lange gearbeitet haben. Dort liegt unterhalb eines der ältesten Gehöfte der Gegend noch eine unterirdische Anlage, die ebenfalls gut 20 Meter in den Hügel hineinführt. Auch hier befindet sich der Eingang im Keller des Hauses und wurde wahrscheinlich bei dessen Ausschachtung entdeckt. Will man den Erdstall begehen, so klettert man in ein etwa zwei Meter tiefes Loch hinab, geht dann gebückt oder auf allen vieren zwischen aufrecht stehenden Orthostaten - prähistorischen Steinen - hindurch und staunt darüber, wie genau die wahrscheinlich ebenfalls aus der Megalithkultur stammenden Deckensteine eingepaßt sind. Der Gang macht eine Biegung, nach der seine Wände nur mehr aus Fels bestehen; dahinter folgt ein enger Schlupf, durch den man sich wirklich nur trauen sollte, wenn man nicht an Platzangst leidet. Solche Passagen finden sich in vielen Erdställen, sie führen meist in weitere, oft recht niedrige Kammern.

Nach der Begehung weist Heinrich Kusch auf die umliegenden Hügel und Bauernhöfe. "Hier wird ein Einstieg vermutet, da war auch einmal ein Gang - und wir vermuten, daß es zwischen diesem Haus und denen dort drüben einmal Verbindungsgänge gegeben hat. Aber die müßten wir alle erst einmal freilegen. Dann erst könnte man genaue archäologische Untersuchungen anstellen und die Objekte wissenschaftlich bewerten, wenn von Seiten der etablierten Forschung Interesse an diesem kulturgeschichtlich einzigartigen Phänomen bestünde. Würden wir das alleine machen, dann bräuchten wir wahrscheinlich 400 Jahre dazu ..."

 

 

 

Fortsetzung folgt ...

Peter Hiess & Heidelinde Moser

Steirer in der Unterwelt

ursprünglich erschienen in der Zeitschrift "2012"


Photos: Kurt Prinz

 

 

Erinnern Sie sich noch, daß vergangenes Jahr eigentlich die Welt hätte untergehen sollen?

Die österreichische Zeitschrift 2012 - Das vielleicht letzte Magazin der Welt begleitete ihre Leserschaft Monat für Monat auf dem Weg ins Verderben und versorgte sie journalistisch mit den wirklich wichtigen Themen im Leben.

Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) einige ausgewählte Beiträge aus dem Heft.

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