Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #11, Pt. 1

"Your body is a battlefield"

Oder: Der Körper zwischen Beschädigung und Modifikation. "Rokko´s Adventures"-Autor Daniel Krcal hat sich mit Phänomenen wie Stechen, Schneiden oder gar Hirnaufbohren beschäftigt. Daß der Mensch gern mit sich selbst spielt, ist schließlich nichts Neues - die Auswüchse solcher Basteleien spalten jedoch seit jeher (nicht nur) die Gesellschaft.    16.01.2009

"Your body is a battlefield" konstatierte dereinst die Photographin und Konzeptkünstlerin Barbara Kruger. Was als feministische Kampfattitüde gedacht war, ist im Grunde genommen so etwas wie die Formulierung einer anthropologischen Grundkonstante, nämlich der einer grenzüberschreitenden und kodifizierenden Aneignung und Adaptation des menschlichen Körpers. Körpermodifikation mit und ohne Funktion, Selbstschädigung, die Lust am Verstümmeln von Leibern und vieles mehr - der menschlichen Phantasie sind in der Kolonisierung des Körpers scheinbar keine Grenzen gesetzt. In diesem kleinen Special werden ein paar herausragende Gestalten exemplarisch behandelt. Genausogut hätten es auch andere sein können, so quantitativ stark vertreten ist die Körperthematik in und abseits der Kunst. Eigentlich nicht verwunderlich - ist er doch das uns nächste, das wir haben. Einen kleinen Überblick über die Formen körperlicher Modifikationen soll der folgende Text bieten.

 

Die Durchdringung des Fleisches

 

Sicher, die Grenzen sind fließend. Streng genommen beginnt die Modifikation des menschlichen Körpers beim Tragen des Penisfutterals oder Evas postparadiesischem Blatt, respektive beim Schmücken und Einkleiden. Erst vor kurzem erschien mit Erich Kastens "Body Modification" eine Art soziologisches Standardwerk zum Thema, in dem ein wahrlich weitläufiges Kontinuum an menschlichen Zurechtmachungen postuliert wird. Dieses beginnt bei Haarschnitt und Bartrasur und endet bei der verlockenden Behauptung, das Altern, mit all dem, was dabei Körper und Geist widerfährt, sei die stärkste "body modification" von allen. Erst dazwischen werden all die Schönheiten und Grauslichkeiten behandelt, die Mann und Frau sich und anderen einzufleischen in der Lage sind.

Um das Ganze etwas einzugrenzen, bedient sich dieser Artikel nicht solch einer Vermengung biologischer, oberflächlicher und sozusagen einschneidender Praktiken, sondern konzentriert sich auf nichtoberflächliche Phänomene; Praktiken also, die mit einem tiefergehenden und Spuren hinterlassenden Eingriff in den menschlichen Körper einhergehen. Sonst würde man allzuschnell bei einer Abhandlung über Krinolinen landen, was zwar auch nett, aber zu ausufernd wäre.

 

"Where does a body end?" (Michael Gira)

 

Zu sagen, wo der Körper und die Beschäftigung seiner Inhaber mit selbigem beginnen respektive auch aufhören, erweist sich als physio-ontologische Kopfnuß. Das Ding ist immer schon da, vielleicht noch, bevor es sich sein eigenes Bewußtsein schafft, und womöglich denkt man über etwas nach, das einen eigentlich überhaupt erst erdacht hat. Nicht erst seit Leibniz drangsaliert sich der Mensch mit diesem Thema. Wie auch immer: Die Annahme eines psychophysischen Parallelismus gilt nach einem jahrhundertelangen Diskurs als weitgehend falsifiziert. In den Neurowissenschaften führen die bildgebenden Verfahren zu verblüffenden Offenlegungen lang geahnter Wechselprozesse, und die Biogenetik konfrontiert hilflose Ethikkommissionen immer stärker mit post- und transhuman designtem Leben.

Freud bezeichnete das Mangelwesen Mensch treffend als Prothesengott, der seine organischen Limitierungen mittels Werkzeug und kommunikativer Auslagerung sublimiert. McLuhan griff diesen Gedanken Jahrzehnte später unter Berücksichtigung telematisch-taktiler Dimensionen in seinem Postulat von der "extension of man" wieder auf.

 

Von der Eroberung des Körpers zur funktionellen Erweiterung

 

Paul Virilio beschrieb in den 90er Jahren die einer massiven, nach außen gerichteten Expansionsphase folgende "Eroberung des Körpers". Nicht zuletzt oder gerade durch die Fortschritte in der Nanotechnologie hat die Wissenschaft den menschlichen Körper als zu kolonisierendes Gebiet (wieder)entdeckt. Unter anderem phantasiert Virilio von einer mit der Fähigkeit der Photosynthese ausgestatteten Haut, die den Menschen von der Last der inneren Organe befreien würde.

Das, was Virilio in seinem Werk beschreibt, ist nicht unwesentlich durch die Arbeiten eines Mannes inspiriert worden: Stelios Arcadiou alias Stelarc. "Der Körper", so meinte Stelarc schon dereinst, "ist eine evolutionäre Architektur - und er ist veränderbar." Sprach´s und schickte sich an, die Grenzen zwischen Körpergesamtkunstwerk und multimedialer Funktionalität immer wieder aufs Neue zu sprengen. In den 70ern begann er seine Studien zu einem postbiologischen menschlichen Körper, den er mit Robotern und nanotechnologisch-medizinisch weiterzuentwickeln trachtete. In Phase eins wurde als Belastbarkeitstest der Haut vorweggenommen, was heutzutage unter dem Begriff "Suspension" subkulturelle Mode geworden ist: das Aufhängen mittels Hakendurchdringung. Sein aktuelles Projekt ist ein künstliches Ohrimplantat am Unterarm; vom Anbringen im Gesichtsbereich wurde ihm aufgrund der großen Belastung durch Kaubewegungen von Ärzten abgeraten. Dafür gab es aber zumindest, bis er wegen einer Infektion den Rückzug antreten mußte, eine Bluetooth-Verbindung zu einem Mikrophon im Ohrmuschelgang.

Neben dem Paradebeispiel und Pionier Stelarc gibt es selbstredend jede Menge anderer Abenteurer in Sachen kreativer Explorationen. Ein putziges Beispiel ist der Magnet, den sich die dem Thema "Body Hacking" verschriebene Journalistin Quinn Norton in den Finger transplantieren ließ.

 

Body Extensions

 

Gewisserweise doch ein Abstecher zu den Krinolinen, wie auch immer: Beim Thema der "Body Extensions" steht die Funktionalität mitunter weit hinter der Ästhetik, bis zur obligaten Überschneidung mit der Welt der Mode - etwa wenn Christian Dior mit einer Halsschmuck-Kollektion auf burmesische Ästhetik und Body-Modification-Style verweist.

Exemplarisch für diese Arten von kunstverankerten Körpererweiterungen kann vielleicht die deutsche Rebecca Horn mit ihren Arbeiten "Arm-Extensionen", "Kopf-Extensionen" oder "Einhorn" genannt werden.

Eine in diesem Kontext interessantere Schnittstelle ist die zur medialen Kunst. In dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um die Repräsentation durch das Medium, sondern vielmehr auch um Reproduzierbarkeit körperlichen Tuns durch virtuelle Prozesse. Es geht um die kybernetische Erweiterung bis hin zum vollständigen maschinellen Ersatz partieller menschlicher Grundfunktionen.

 

Körper-Kunst

 

Als Wiener Kind kommt man nicht umhin, die vielzitierten Aktionisten an den Anfang zu stellen. Schwarzkogler, Brus, Mühl und Nitsch stehen in Sachen Bekanntheit und Beschäftigung mit dem Körper an der Spitze. Herausragend war wohl Günther Brus "Zerreißprobe", 1970 vor einem kleinen und zutiefst schockierten Münchner Publikum durchexerziert. Bis zur äußersten Erschöpfung schändete Brus dabei seinen - zunächst in Slip und Damenstrümpfe und später entblößt aufgeschnittenen - Körper. Filmisch hat Kurt Kren, unter anderem in Zusammenarbeit mit Otto Mühl, Bahnbrechendes geleistet. So impersonisiert er in "Selbstverstümmelung" ein in Bandagen gehülltes Individuum, das sich in Teig und Mehl wälzend mit allerhand metallischen Gegenständen in den Körper fährt.

Operative Phantasien finden sich auch in der Gestalt John Fares oder beim BDSM-Performer Bob Flanagan, wenn er sich im indizierten Nine-Inch-Nails-Video "Happiness in Slavery" unter eine mehr als deftige und ihn letztendlich über den Jordan bringende Foltermaschine legt.

Im Gegensatz zu diesen beiden fiktiven Exempeln stehen natürlich Künstler, die sich tatsächlichen Torturen aussetzen. Da wäre zum Beispiel Douglas Gordon, der seine abgeschnürten Hände 60 Minuten lang filmte, bis sie blau anliefen und beinahe abgestorben wären. Doch anders als bei der aktionistischen Selbstverliebtheit eines sich selbst beschädigenden Brus ging es Gordon um das, was sein Film beim voyeuristischen Publikum evoziert. Er wollte die Zuschauer spüren lassen, daß in ihnen ein sadistischer Zug steckt - für Douglas eine logische Folge der Schaulust.

In einer anderen videodokumentarischen Aktion machte sich der Amerikaner Chris Burden zur Zielscheibe eines Revolverprojektils: Aus fünf Metern Entfernung schoß ihm ein Freund in den linken Oberarm.

Doch was, wenn der Künstler die Kontrolle noch mehr aus der Hand gibt und sich dem Publikum direkt ausliefert? Diese Frage wurde wohl am radikalsten von der Body-Art-Pionierin Marina Abramovic im Selbstversuch durchgespielt. Bei ihrer Aktion "Rhythm 0" hatte sie beinhart sechs Stunden Regungslosigkeit durchgehalten, während sie das Publikum mit 72 an ihr zu benutzenden Gegenständen konfrontierte. Nach einer langen und zögerlichen Zeit entwickelte die Situation eine dramatische Eigendynamik: Zuschauer begannen Abramovic die Kleider vom Leib zu schneiden und ihr blutende Verletzungen zuzufügen, und plötzlich stand auch die Möglichkeit sexueller Übergriffe im Raum. Zwei Gruppen bildeten sich: eine das Äußerste fordernde und eine beschützende, die der Künstlerin eine geladene Pistole in die Hand und ihren Finger an den Abzug legte. Daraufhin kam es zu Schlägereien, um nicht zu sagen Machtkämpfen um die Vorherrschaft über die noch immer regungslose Abramovic.

Versuchsanordnungen neuerer Datierung stammen vom Vorarlberger Wolfgang Flatz. Dieser ließ sich sowohl von Zuschauern gegen Bezahlung mit Dartpfeilen bewerfen als auch in einen nicht unumgehbaren Teppich eingenäht von den Museumsbesuchern besteigen. Die für zwölf Stunden angesetzte Teppich-Session wurde - wie auch eine Dauerbeohrfeigungsaktion - durch Interventionen aus dem Publikum beendet.

 

Fortsetzung folgt ...

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #2

(erschienen Dez. 2007)


Text: Daniel Krcal

Photos/Günther Brus: "Zerreißprobe" © Galerie Curtze

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