Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #15

Born to be wild

Wilde Kinder hat es im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer gegeben - und mit ihnen auch die Frage, inwieweit sie später noch in die menschliche Gesellschaft integrierbar seien. Die Kollegen von "Rokko´s Adventures" sind dem Mythos vom homo ferus auf die Spur gegangen.    06.04.2009

Es war einmal ...

 

Irgendwann im Jahre Schnee entwuchs der Affe dem Affen und wurde zum Menschen (was das heißen könnte, dazu im Laufe des Aufsatzes mehr). In dieser Übergangsphase hielt der Menschenaffe das Ding geschickt am Laufen: Das malaysische orang-utan bedeutet Waldmensch, was darauf schließen läßt, daß die dortigen (menschlichen) Stämme ihre Nachbarn für direkte Brüder und Schwestern hielten. Und nach wie vor wird in fachschaftlichen Kreisen diskutiert, ob denn der Homo sapiens, als er Afrika verließ, es auf dem Weg nach Amerika noch mit europäischen Neandertalern getrieben hat oder nicht.

Davon unbeeindruckt steht fest: Den Nachwuchs zu konditionieren, zu hegen und zu pflegen ist Aufgabe der Platzhalter Erziehungsberechtigte/r, und in den meisten Fällen menschlicher Frischlinge handelt es sich dabei sogar um Menschen (?) selbst. Ab und zu aber wird die Aufgabe der Erziehung weitergeschoben und damit freigegeben für Revolverblätter, Stammtische und seinerzeitige Ausprägungen.

Sie werden wilde Kinder/Menschen bzw. feral children genannt und wachsen mit minimalem oder gar keinem Kontakt zu Menschen auf. Sie werden entweder von ihren Erzeugern eingesperrt und von sozialen Kontakten weitgehend isoliert (Keller, Hundezwinger, Schweinestall) oder sie wachsen in der Wildnis - alleine oder unter Tieren - auf. Der Mensch ist also eine Variable zwischen Unbekannten. Aber auch bei Tieren läßt sich vieles ausgestalten: Angebliche Erbfeinde wie Katzen und Mäuse vertragen sich zum Beispiel blendend - vorausgesetzt, man läßt sie ohne übertriebenes Mißtrauen miteinander aufwachsen. Daß Hunde Katzen aufziehen, ist in freier Wildbahn durchaus keine Seltenheit. Es gibt also nach wie vor nichts von vornherein Normales, sondern bloß realitätsschaffende und zeitlich begrenzte Konventionen, die von den jeweiligen Gesellschaften festgesetzt werden, um Bequemlichkeit und Goschn-Halten zu garantieren.

Wilde Kinder werden entweder von Eltern verloren, verstoßen, fliehen vor häuslicher Gewalt oder werden von Tieren geraubt, deren Verhaltensweisen ihnen nach und nach quasi ins Blut übergehen. Auch wenn sich die meisten Wissenschafter, Mediziner und Quacksalber auf die Sprachentwicklung konzentrieren, gibt es noch einige andere bemerkenswerte Aspekte im Bezug auf wilde Kinder. Das geht soweit, daß Kälte- und Hitzeempfinden rück- bzw. gar nicht entwickelt werden, Zweibeiner zu behaarten Vierbeinern werden, Sehschärfe in der Dunkelheit und Gehör generell optimiert und die Laute der Adoptiveltern imitiert werden. Bei wilden Kindern, die in menschliche Umgebung zurückgebracht wurden, herrscht meist so etwas wie sexuelle Gleichgültigkeit - selbst die Geilheit des Menschen muß konditioniert werden (Stichwort: YouPorn-Generation).

Psychosozialer Kleinwuchs ist ein weiteres Ergebnis des Aufwachsens in Isolation. Der Mensch kann dort nicht gedeihen - selbst bei ausreichender Ernährung wächst und entwickelt sich der Körper nicht wie bei uns verhätschelten Menschlein. Das hat die Ursache darin, daß die Produktion von nötigen Hormonen durch den hohen Streßlevel unterdrückt wird.

Der Ernährungsplan wird ebenso von den Pflegeeltern übernommen, und Mangelernährung wirkt sich noch zusätzlich auf das eventuelle Aufblühen aus. Wilde Kinder essen zwar genug, um zu überleben, meist aber ist ihre Diät sehr einseitig. Kinder, die von Wölfen aufgezogen werden, essen zum Beispiel nur rohes Fleisch. Sie nach dieser Phase auch kulinarisch zu resozialisieren und an gekochtes Fleisch und Gemüse zu gewöhnen, ist eine langwierige und herausfordernde Aufgabe. Oft sind wilde Kinder nämlich auch nach dem Wiedereintritt in die menschliche Gesellschaft noch richtig scharf auf frisches Blut; Kamala etwa packte die Gelegenheit oft am Schopf, wenn ein Huhn in Reichweite nach Würmern pickte - fing, tötete und aß das Ding. Rohes Fleisch ist bei Wolfskindern also durchaus normal, während Kinder, die sich über längere Zeit alleine durchschlagen, meist auf größere Fleischgerichte verzichten und sich hauptsächlich von Beeren, Gräsern, Rinden, Würmern, Fröschen und anderen Kleintieren ernähren. John Ssebunya zum Beispiel, der mehr als zehn Jahre mit Affen im Dschungel gelebt hatte, trank angeblich in seiner gesamten wilden Zeit keinen Tropfen (Regen-)Wasser, sondern bekam die lebensnotwendige Flüssigkeit - wie seine Affenkollegen - aus Früchten. Zudem wurden Berichten zufolge mehr als einen halben Meter lange Würmer in seinen Exkrementen gefunden.

 

Nichts ist besser als gar nichts

 

Mangelnde Ernährung wirkt sich zusätzlich auf Hormone aus, die für den Haarwuchs verantwortlich sind und macht manche - wenn auch nicht alle wilden Kinder, wie Linné es fälschlicherweise festgesetzt hat - zu ganzkörperbehaarten Wesen. Hypertrichosis nennt sich dieses Phänomen, das auch bei an Anorexia nervosa Erkrankten auftritt.

Kinder, die von Tieren aufgezogen werden, sind sich weiters der Bedürfnisse anderer nicht bewußt, sie identifizieren sich nicht als menschliche Individuen, sondern sehen ihnen begegnende Menschen eher als Gefahr an. Konzepte von Moral, Besitz und Eigentum sind ihnen genauso fremd wie Empathie. Die oben angeführten Eigenschaften sind natürlich Klischees von Bilderbuch-Wilden und treffen in nur äußerst seltenen Fällen in ihrer Gesamtheit zu bzw. sind - wie es bei individuellen Geschöpfen eben der Fall ist - von Persönlichkeit zu Persönlichkeit in verschiedenen Kombinationen ausgeprägt.

Verständlicherweise sind nicht alle Tierarten gleich gut geeignet, um sich eines Säuglings anzunehmen. Am menschenkinderfreundlichsten sind Wölfe, besonders in Indien werden auf diese Weise wilde Kinder gemacht. Der Grund dafür mag sein, daß die auf dem Feld arbeitenden Frauen ihre Kinder zur Seite legen, um ihrer Tätigkeit nachgehen zu können. Speziell Wolfsdamen mit ausgeprägtem Mutterinstinkt nähern sich daraufhin menschlichen Säuglingen, um sie auf ihre Weise - nach bestem Wissen und Gewissen - großzuziehen. Hercules Grey Ross, der um 1860 als Assistant Commissioner in Sultanpur tätig war, meinte, daß Wolfsmütter, die gerade einen Wurf verloren hatten, ihre noch vorhandenen Muttergefühle auf hilflose Menschenkinder übertragen würden - eine durchaus plausible Annahme. Aber auch in Großstädten Südamerikas und Osteuropas gibt es nach wie vor Kinder, die mit Hunden leben und sich von Abfällen ernähren (siehe "Simpsons", 16. Staffel, Folge 11 - "On a Clear Day I Can´t See My Sister" [dt.: "Die böse Hexe des Westens"]: Bart wird zum Hundejungen; "Malcolm Mittendrin", 6. Staffel, Folge 19 - "Motivational Seminar" [dt.: "Motivator Hal"]: Reese wird zum Hundejungen - beides in Nordamerika!).

Am schwierigsten und auch entscheidendsten ist es jedoch, das Sprachverhalten aufzupäppeln, was uns zur Hypothese der "kritischen Periode" führt. Diese besagt im Wesentlichen, daß die Fähigkeit zum Spracherwerb auf die Jahre vor der Pubertät beschränkt ist. Danach verschwindet - als eine Folge von neurologischen Veränderungen des Gehirns - das Vermögen, das Sprachverhalten vollständig zu erwerben. Es können (wie etwa im Fall Genie von Temple City) nur einzelne Wörter und einfache grammatikalische Konstruktionen erlernt werden; es sei denn, man hat schon vor der Isolation die Sprachfähigkeit beherrscht - dann ist es möglich, sie wieder vollständig aufzutauen. Doch ansonsten waren wilde Kinder nur in der Lage, sich mit Hilfe einer Mischung aus Zeichensprache und Lauten zu artikulieren. Die Laute der Tiergattung jedoch, unter der sie gelebt hatten, beherrschten sie häufig erstaunlich gut, verlernten sie unter den Menschen jedoch zunehmend.

Chris Schaner-Wolles, Sprachwissenschafterin und Professorin für klinische Linguistik an der Universität Wien zu den heutigen Erkenntnissen der Sprachwissenschaft und der damit verbundenen Erforschung der Gehirnaktivitäten: "Das Zeitfenster für den Erstspracherwerb ist nur bis etwa zum sechsten, siebten Lebensjahr geöffnet. Werden in dieser Zeit keine sprachrelevanten Vernetzungen im Gehirn (bei den meisten Menschen in der linken Gehirnhälfte) gebildet, so ist es dem Kind später unmöglich, eine Sprache zu erlernen. Speziell der Erwerb von Grammatik ist nicht mehr möglich. Lediglich Wörter und einzelne Satzmuster können - quasi nach dem Dressurprinzip (Belohnung bzw. Bestrafung) - gespeichert werden."

 

The Forbidden Experiment


Wilde Kinder hat es natürlich schon immer bzw. seit der gottgewollten Trennung von Mensch und Tier gegeben. Wir kennen die Geschichten von Romulus und Remus, Mowgli oder Tarzan, die die romantische Erzählform wählen und netten Stoff für Disney-Filme hergeben. Die meisten dieser Phänomene waren nicht geplant und intendiert - teilweise aber doch und mitunter sogar unter wissenschaftlichen Vorzeichen. So hat zum Beispiel der ägyptische Pharao Psammetichos I. im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit zumindest laut dem griechischen Historiker Herodot einer Familie zwei Kinder weggenommen, um sie bei einem stummen Hirten und dessen Ziegen aufwachsen zu lassen. So wollte er dem Ursprung der Sprache auf die Spur kommen. Nach zwei Jahren riefen die Kinder angeblich "bekos, bekos!", was im Phrygischen Brot bedeutet, woraufhin Psammetichos I. phrygisch als Ursprache akzeptierte.

Der für seine Zeit aufgeklärte Staufer und Kaiser Friedrich II. und der schottische König Jakob IV. hatten - unabhängig voneinander und mit Jahrhunderten Zeitdifferenz - angeordnet, mit einzeln herausgepickten Neugeborenen nicht zu sprechen und sie nur mit den lebensnotwendigen Materialien zu versorgen. Sie starben jedoch, bevor sie nach bekos verlangen konnten.

Ab dem 14. Jahrhundert nehmen (angebliche) Tatsachenschilderungen über hessische Wolfsjungen, russische Bärenkinder, irische Schafskinder und andere Mischkulturen zu, doch die ernsthafte (wenn auch oft grausame und rücksichtslose) Beschäftigung mit wilden Kindern begann erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Zuvor wurden diese Erscheinungen meist bloß im Sinne von Anekdoten oder der Faszination am Bizarren verwendet oder dienten am königlichen Hofe als Unterhaltungsobjekte (was übrigens auch später in Freakshows in abgewandelter und aufgemotzter Form noch bis ins 20. Jahrhundert geschah und in seinen Ausprägungen bis heute stattfindet).

Der französische Philosoph Etienne Bonnot de Condillac veröffentlichte 1746 den "Essai sur l´origine des conaissances humaines", worin er die These aufstellt, der Mensch komme als unbeschriebenes Blatt zur Welt und erhalte erst durch sinnliche Erfahrung sein Profil - der Mensch sei also kein Ergebnis der Natur, sondern der Einflüsse seiner Umwelt. Der Universalgelehrte Georges-Louis Buffon brachte drei Jahre später "Histoire naturelle générale et particulière" heraus, worin er vom Urzustand der Menschheit erzählt und als erste maßgebliche Stimme den Topos des Edlen Wilden abfeiert. 1758 schließlich postulierte der schwedische Naturwissenschafter Carl von Linné in der zehnten Auflage seines "Systema Naturae" die sechs Unterarten des Homo sapiens. Zu unterscheiden wäre demnach zwischen dem Homo americanus, dem Homo europaeus, dem Homo asiaticus, dem Homo afer, dem Homo monstrosus (zu dem alles zwischen Pygmäen und Primaten, Zyklopen, Lotophagen und geschwänzten Menschen gehört) und dem Homo ferus. Letzterer ist laut Linné trapus, mutus und hirsutus, also vierbeinig, stumm und behaart - eine in den allermeisten Fällen übertriebene, aber damals gängige Vorstellung vom wilden Menschen.

Johann Christian Daniel Schreber, ein Schüler Linnés, bewertete den Homo ferus nicht als Unterart, sondern als Ausartung des Homo sapiens. Zudem war der wilde Mensch für Schreber kein Mensch im ursprünglichen Zustand, sondern ein bedauernswertes Individuum.

Der Theologe und Philosoph Johann Friedrich Immanuel Tafel veröffentlichte 1848 seine Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte jedes einzelnen Problems, deren Fazit sich wie folgt liest: "Der Mensch wird also nur unter Menschen ein Mensch, er muß zum Menschen erzogen werden, ohne diese Erziehung bleibt er ein Tier."

August Rauber, ein Anatomieprofessor, war ein weiterer wichtiger Impulsgeber in Sachen Homo ferus. Für ihn war der wilde Mensch schlicht der Mensch ohne Kultur - im Gegensatz zum Menschen in der Gesellschaft: "Der Einzelne bedarf nicht bloß zu seiner Menschwerdung der Wirkungen des staatlichen Verbandes, sondern die menschliche Vernunft selbst, so wie die Sprache des Menschen, sind langsam gereifte Erzeugnisse des Verbandslebens." Worunter die Wilden leiden, sei keine angeborene Geistesschwäche, sondern dementia ex separatione, durch Absonderung verursachter Schwachsinn. Wären sie bereits geistig behindert geboren, so hätten sie eine derart strapaziöse Isolierung, wie sie wilde Kinder durchmachen, nicht überlebt. Rauber war außerdem der Meinung, daß der isolierte Mensch durchaus die Urform des Menschen sei.

Wenn Charles Darwin hingegen von den Wilden spricht, so meint er keine von Tieren aufgezogenen Kinder, sondern die primitven Stämme Afrikas, Amerikas und Asiens, die seiner Theorie zufolge auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe des Menschen stehen als die Europäer. Susanne Winter und andere ehrliche Kämpfer der Freiheitlichen Partei Österreichs sind dort irgendwo hängen geblieben und werfen noch immer mit gedanklichen Exkrementen aus ihren eigenen Köpfen um sich. Wir erinnern uns auch: In islamischen Ländern werden von den Männern keine Frauen, sondern Tiere gefickt, woraufhin Susanne Winter die großartige Idee hatte, man sollte, um vor Vergewaltigungen prophylaktisch zu schützen, Schafherden im Grazer Stadtpark rasenmähen lassen. Frau Winter, Sie sind ein Genie! Und vielleicht wird dann endlich das erste Schafskind mit Migrationshintergrund geboren!

Der Sozialpsychologe Lucien Malson schrieb im 1964 erschienenen "Die wilden Kinder": "Die Wahrheit, die letztlich durch all dies verkündet wird, lautet, daß der Mensch als Mensch vor seiner Erziehung nichts weiter ist als eine Eventualität, und sogar noch weniger: nur eine Hoffnung."

 

Affe stampft Kafka

 

Der Psychologe Winthrop Niles Kellog wagte 1931 ein Experiment: Er schätzte den Unterschied zwischen Menschen und Affen als sehr gering ein und führte ihn großteils auf die Erziehung zurück. Er stellte sich die Frage, wie sich wohl ein Affenkind verhalten würde, das wie ein Mensch - samt Angekleidet- und Gewaschenwerden, eigenem Kinderbettchen und Schmusen - erzogen würde. So zog am 26. Juni desselben Jahres das siebeneinhalb Monate alte Schimpansenweibchen Gua zur Familie Kellogg, in der der damals gerade zehn Monate alte Sohn Donald aufwuchs. Gua und Donald sollten nun wie Geschwister ohne merkliche Unterschiede aufgezogen werden - beide wurden auf den Topf gesetzt und mit festem Schuhwerk zum Zweibeiner erhöht.

Es stellte sich heraus, daß Gua in vielerlei Hinsicht schnellere Fortschritte als ihr Halbbruder machte. Papa Kellog machte viele Versuche mit seinen beiden Zöglingen und merkte, daß Gua geltende Funktionen besser begreifen konnte als Donald, während dieser großteils Gua bloß nachahmte - das heißt, nicht das Tier wurde zum Menschen, sondern der Mensch zum Tier. Donald lernte mit 14 Monaten von Gua Bell-, Grunz- und Schreilaute, die menschliche Sprachentwicklung setzte allmählich aus. Mit 19 Monaten konnte Donald nur noch sechs Wörter aussprechen - normalerweise haben Kinder in diesem Alter einen aktiven Wortschatz von 50 Wörtern. Nach neun Monaten wurde das Experiment schließlich und aus plausiblen Gründen abgebrochen, Donald konnte die Menschensprache natürlich noch erlernen und wurde Jahre später zum Doktor der Medizin an der Harvard Medical School. Über das weitere Leben von Gua konnte ich keine Informationen einholen.

Ein weiterer interessanter Akt zur Sprengung tradierter Abgrenzungen gelang der Psychologin Francine Penny Patterson, die 1972 vom Tierpark San Francisco das damals einjährige Gorillamädchen Koko bekam und diesem sogleich eine eigens für sie erfundene Zeichensprache beibrachte. Nach 30 Jahren verfügte Koko über etwa 1000 Handzeichen und verstand 2000 Wörter, konnte viele ihrer Wünsche äußern, Witze machen, schimpfen und sogar bewußt lügen. Sie sprach hauptsächlich über Essen und ihre Gefühle. Hier ein Auszug aus einem Dialog zwischen Patterson und Koko, der in Zeichensprache gehalten und anschließend von Dr. Patterson übersetzt wurde. Koko und ihr Frauchen betrachten ein Gorillaskelett:

Patterson: Lebt der Gorilla oder ist er tot?

Koko: Tot, Wiedersehen.

Patterson: Wie fühlt sich ein Gorilla, wenn er stirbt: glücklich, traurig, ängstlich?

Koko: Schlafen.

Patterson: Wohin gehen Gorillas, wenn sie sterben?

Koko: Gemütliches Loch, Wiedersehen.

Das ist in der Tat ein Meilenstein und ermöglicht in einzelnen Fällen halbwegs realistische Gedanken an eine gemeinsame Sprache von Mensch und Tier, die ungeahnte Eindrücke liefern könnte. Allerdings ist natürlich auch dieser Dialog nur schwer zu überprüfen - bekanntermaßen bekam einzig der Pferdeflüsterer den Gültigkeitsstempel von der Wissenschaftsfabrik Hollywood. Hip, hip, hurra!

 

Die Wahrheit zumutbar?


Wie wir sehen, ist es sehr schwierig, den Wahrheitsgehalt einer jeden Schilderung ordnungsgemäß zu überprüfen. Erstens, weil die Forscher von ihren Projekten absolut voreingenommen sind und die Forschungsergebnisse immer von Eindruck und Ausgestaltung eines oder nur weniger Beteiligter formuliert werden. Zweitens sind die Fälle schon meist zu alt, um sie nachzuprüfen. Drittens sind die Quellen nur sekundärer oder tertiärer Natur - Informationen aus erster Hand sind nur schwer zu erhalten, und selbst diese sind immer stark eingefärbt mit den Absichten und Hintergründen der jeweiligen Person. Und selbst Interviews mit wilden Menschen zu führen ist ungefähr so einfach wie eine Photo-Lovestory mit Thomas Pynchon anzufertigen. Zudem bewegt sich dieses ganze Gebiet auf nur sehr wackeligen Beinen; es gibt verschiedene Annahmen und verschiedene Thesen, von denen nur wenige bewiesen und viele umstritten sind. Allerdings gibt es doch einige Berichte und Ergebnisse, die mindestens genauso plausibel klingen wie Frankensteins Relativitätstheorie und über spinnerte Spekulationen hinausgehen.

Doch ich denke auch, daß viele wilden Kinder der bloßen Einfachheit halber als solche bezeichnet wurden, obschon sie mitunter Autisten oder geistig Verwirrte waren. Es mag dies der Grund für das Verstoßen oder Einsperren des Kindes sein und nicht unbedingt dessen Folge. Außerdem nehme ich einfach einmal an, daß die meisten wilden Menschen keine Berühmtheit erlangt haben, sondern vor ihrem Durchbruch bereits in der Wildnis verendet sind.

Fortsetzung in "Rokko´s Adventures" #4, dranbleiben!

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #3

(erschienen Juni 2008)


Text: Rokko

Photos © Kurt Prinz

Links:

Bibliographie


Blumenthal, P. J. - "Kaspar Hausers Geschwister", München 2005, Piper Verlag

Gerhardt, Sue - "Die Kraft der Elternliebe. Wie Zuwendung das kindliche Gehirn prägt", Düsseldorf 2006, Patmos Verlag

Koch, Friedrich - "Das Wilde Kind. Die Geschichte einer gescheiterten Dressur", Hamburg 1997, Europäische Verlagsanstalt

Malson, Lucien - "Die Wilden Kinder", 1972 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag

Pethes, Nicolas - "Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts", Göttingen 2007, Wallstein Verlag

Links:

Victor von Aveyron


Er ist der erste sorgfältig dokumentierte wilde Mensch: Im Frühling 1797 entdeckten Bauern in einem Wald im südfranzösischen Aveyron einen nackten Jungen, der flink herumhopste und scheinbar nach Eicheln und Wurzeln suchte. Erst ein Jahr später gelang es Holzfällern, ihn einzufangen, worauf sie ihn in das Dorf Lacaune brachten. Er blieb nur kurz, da ihm die Flucht gelang; danach verbrachte er einen weiteren Winter im Wald. In den darauffolgenden eineinhalb Jahren wurde er immer wieder an Feldrändern gesichtet, wo er mit Händen Karotten und Kartoffeln freischaufelte. Im dortigen Wald wurden mehrere Rückzugsstätten des Jungen gefunden, und als ihm 1799 drei Jäger auflauerten und von einem Baum holten, wurde er abermals nach Lacaune gebracht - von wo er nach einer Woche wieder in den Wald ausriß.

Er floh über ein Gebirge und kam während des folgenden strengen Winters gelegentlich zu nahegelegenen Bauernhöfen, deren Besitzer ihm zu essen gaben. Am 8. Jänner 1800 erschien der hungrige Junge im Haus des Färbers Vidal, von wo aus er in ein Waisenhaus gebracht wurde. Man schätzte ihn auf zwölf bis fünfzehn Jahre, er war 1,36 Meter groß und konnte nicht sprechen, nur unartikulierte Schreie ausstoßen. Kurz darauf brachte man den Jungen nach Rodez, wo ihn der geistliche Naturforscher Bonnaterre untersuchte: Victor konnte sein eigenes Spiegelbild nicht erkennen, war von Wutanfällen geplagt und schlief von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Weiters verabscheute er Süßigkeiten, Gewürze und gegarte Speisen, sondern ernährte sich vorwiegend von Eicheln, Nüssen und Kastanien. Er interessierte sich nicht für die Spiele anderer Kinder und war nicht in der Lage, eine geschlechtliche Trennung von Personen vorzunehmen - bei ihm war auch keinerlei Sexualtrieb zu erkennen.

Bonnaterre wunderte sich des weiteren über seine Unempfindlichkeit gegenüber Hitze und Kälte. Es bereitete dem Jungen große Freude, sich im Schnee zu wälzen, oft griff er auch mit bloßen Händen ins Feuer, um einen brennenden Holzscheit herauszuholen. Er reagierte weiters nicht auf Musik oder menschliche Sprache, selbst hinter seinem Rücken abgegebene Pistolenschüsse erschreckten ihn nicht. Das Knacken einer Nuß allerdings konnte er über größere Entfernungen wahrnehmen und der Vokal O bewirkte, daß er sich umdrehte. Dies war auch der Grund dafür, daß er den Namen Victor erhielt.

Jean Itard, Chef einer Taubstummenanstalt, nahm sich ab Januar 1801 Victors an, kümmerte sich in bedeutender Weise um ihn und hatte seine Erziehungsarbeit in fünf Punkte geteilt:

 

1. Victor für die Gemeinschaft zu gewinnen

2. seine Sensibilität zu erhöhen

3. seinen gedanklichen Horizont zu erweitern

4. ihm die menschliche Sprache beizubringen

5. geistige Tätigkeiten zu entwickeln, die über den Bereich seiner Bedürfnisse schrittweise hinausgingen

 

Itard hat die Ergebnisse seiner Unternehmungen sehr aufschlußreich dokumentiert; diese hier im Detail zu erläutern ist aus Platzgründen unmöglich, damit wurden bereits zahlreiche Bücher gefüllt. Nur soviel: Victors Gefühlsregungen prägten sich aus, er freute sich über Lob, zeigte Reue bei Tadel und war empört, wenn ihm dieser als unberechtigt erschien. Als Itard seinen manchmal widerspenstigen Schüler eines Tages kopfüber aus einem Fenster des vierten Stockes hängte, packte dieser anschließend leichenblaß seine Schulsachen zusammen und brach das erste Mal in Tränen aus.

Im Laufe der Zeit und durch das ständige Üben mit seinem Lehrer lernte er die Bedeutung der wichtigsten Worte kennen und diese selbständig zu schreiben. So war es ihm möglich, seine Wünsche zu äußern und zu kommunizieren. Die Euphorie Itards wich jedoch nach sechs intensiven Jahren, als Victors Entwicklung stagnierte. Daraufhin kam Victor zur vom Innenministerium beauftragten Pflegeperson Mme. Guérin, war für die Forschung kein Objekt von Interesse mehr und starb 1838 im Alter von etwa 40 Jahren in einem Nebengebäude der Taubstummenanstalt. Mme. Guérin verhinderte mit ihrer jahrelangen und liebevollen Pflege, daß Victor in bedauernswerten Verhältnissen dahingesiecht wäre.

Darüber, ob sein Verhalten Ergebnis von Autismus, Schwachsinn oder Isolation ist, gehen die Meinungen bis heute auseinander.

Amala und Kamala von Midnapur


Amala und Kamala gehören zu den sogenannten Wolfskindern. Sie wurden 1920 von Reverend Singh in einem Wolfsbau in Bengalen (Indien) gefunden und von ihm in ein Waisenhaus gebracht, das er auch leitete. Er mußte die Kinder den Wölfen mit Gewalt entreißen, denn sie hatten sie schon in ihr Rudel aufgenommen und konnten das menschliche Eindringen nicht gutheißen. Kamala dürfte zu diesem Zeitpunkt etwa acht, Amala eineinhalb Jahre alt gewesen sein. Ihre verfilzten Haarbüschel wurden sofort entfernt, ihnen wurde - auf Wunsch - rohes Fleisch und Milch serviert. An Händen und Knien hatte sich bereits dicke Hornhaut gebildet, und sie waren am ganzen Körper derartig mit Wunden übersät, daß sie laut Berichten an Leprakranke erinnerten. Es dauerte zwei Monate, bis sie halbwegs aufgepäppelt waren.

Amala und Kamala waren wahrscheinlich keine Schwestern, sondern wurden von den Wölfen zu unterschiedlichen Zeitpunkten adoptiert. In menschlicher Obhut zeigten die beiden Mädchen die für Wolfskinder typischen Verhaltensweisen: sie ließen sich nicht anziehen, kratzten und bissen Menschen, die sich ihnen näherten, lehnten gekochte Nahrung ab und gingen auf allen vieren. Auch waren Geruchs- und Gehörssinn außergewöhnlich stark ausgeprägt, wodurch sie Fleisch aus einer Entfernung von mehr als 60 Metern riechen und für zivilisierte Menschen nicht wahrnehmbare Geräusche hören konnten. Die Farbe ihres Zahnfleisches war blutrot wie das von Tieren; sie waren nicht fähig oder nicht willig, aufrecht zu gehen; sie verfügten über ein hervorragendes Sehvermögen in der Dunkelheit; waren zwar stumm, heulten aber jede Nacht dreimal zu fixen Zeiten (22 Uhr, 1 Uhr, 3 Uhr); waren kälte- und hitzeunempfindlich; aßen und tranken wie Hunde von einem Teller am Boden. Stubenreinheit mußte ihnen beigebracht werden, im Schlaf kuschelten sie sich wie Welpen aneinander. In einzelnen oben genannten Punkten machten sie Fortschritte. Amala, das jüngere Mädchen, war empfänglicher für das Erlernen menschlicher Verhaltensweisen.

1921 stellte man fest, daß die beiden an Fadenwürmern litten. Kamala überlebte die schwere Krankheit, doch Amala starb bereits ein Jahr nach ihrer Entdeckung durch Singh. Doch daraufhin zeigte Kamala keine Anzeichen von Trauer, sondern wurde zugänglicher. Bis 1925 lernte sie sogar einige Wörter zu sprechen und aufrecht zu stehen und zu gehen. 1929 starb aber auch sie, und zwar an einer Nierenvergiftung.

Singh versuchte stets, die beiden mit anderen Kindern zu umgeben, doch Amala und Kamala waren sehr schüchtern und vermieden jegliche Annäherungsversuche. Am liebsten hockten sie in ihrem eigenen Zimmer in einer dunklen Ecke.

Singh hatte sich jahrelang bemüht, die beiden Wolfsmädchen vom Trubel der Presse fernzuhalten, und so gelangte die Geschichte auch erst 1926 an die Öffentlichkeit. Zudem hatte er zahlreiche (oft undatierte) Notizen zu den Verhaltensweisen und Fortschritten der beiden Wolfsmädchen gemacht und nannte diese Aufzeichnungen später Tagebuch, wobei immer wieder über deren Glaubwürdigkeit und den wissenschaftlichen Wert gestritten wurde. 1942 erschien schließlich eine kommentierte Version von Singhs Tagebuch - der Autor erlag jedoch schon 1941 einem Herzinfarkt und erlebte die Publikation nicht mehr. Infolgedessen kam es wieder zu 10.000 Beweisen, daß das alles nicht stimmen könne und 10.000 Beweisen, daß alles so gewesen sei, wie Singh es gesagt hat, dazu allerlei dubiosen Unterstellungen und Richtigstellungen. Wo bleibt der "Spiegel", wo bleibt das ZDF?! (Diesen Witz versteht man erst mit der nächsten Ausgabe von "Rokko´s Adventures"!)

Rocco aus den Abruzzen


Nein, ich meine nicht den Porno-Superstar und Italian Stallion Rocco Siffredi, der 1964 in den Abruzzen geboren wurde. Bevor der an Isolation leidet, geht die Sonne kaputt, der ist glücklich, wie ein dreckiges Schwein nur glücklich sein kann (Zitat: "Ich dachte, ständig ficken und erst noch bezahlt werden dafür, das ist das Paradies!").

Der Rocco, den ich meine, wurde 1971 im Alter von vier Jahren in den Abruzzen gefunden und zunächst einem Studentenehepaar anvertraut. Auf Zuneigungen reagierte er jedoch nur mit Bissen und tierähnlichem Geheule, auch nach zwei Jahren elterlicher Fürsorge zeigten sich keine Veränderungen in Roccos Verhalten. Die Leihmutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, woraufhin Rocco in eine Nervenheilanstalt nach Mailand gebracht und untersucht wurde. Über sein weiteres Schicksal ist mir leider nichts bekannt.

Traian aus Transsylvanien


Anfang 2002 tauchte die Nachricht über den rumänischen Jungen Traian auf: Der Siebenjährige war drei Jahre spurlos verschwunden, in denen er - wie sich später herausstellte - wie ein Tier gelebt hatte. Nachdem er wieder aufgetaucht war, mußte seine Mutter ihn wegen seines desaströsen Zustandes (Rachitis, Hautentzündungen, Kreislaufbeschwerden, Erfrierungserscheinungen) ins Krankenhaus bringen. Man fand ihn neben einem Hundekadaver, von dem er scheinbar gegessen hatte; Traian hatte die Größe eines Dreijährigen und war völlig nackt. Es wird davon ausgegangen, daß er mit streunenden Hunden in den dortigen Sumpfgebieten gelebt hatte. Laut Berichten waren sein Gebärden und seine Reaktionen animalisch und gereizt, über seine weitere Entwicklung konnte ich leider keine Informationen einholen.

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