Kino_9 Songs

Sex und Liebe

Michael Winterbottom porträtiert ein Paar zwischen purer Leidenschaft und vehementem Rock. Und das ist ziemlich explizit und unbekümmert roh - aber nicht langweilig.    13.05.2005

Ist die Lust Motor der Liebe oder bringt erst die Emotion das Begehren auf Touren? Der französische, ungleich unterkühltere Tabubrecher "Intimacy" (2001) gab ersterem Modell den Zuschlag. Bei Michael Winterbottom ist in "9 Songs" beides recht untrennbar miteinander verwoben. Deutlich und ästhetisch illustriert, ist dies auch die einzige Handlung des Films. Lisa (Margo Stilley), US-Amerikanerin und jung, und der britische Polarforscher Paul (Kieran O'Brien) gehen auf coole Konzerte in Londons Brixton Academy; und zwischen den neun, meist energetischen Live-Songs von Black Rebel Motorcycle Club, Franz Ferdinand, Goldfrapp, Primal Scream oder Michael Nyman haben sie Sex, streiten ein bißchen, nehmen Partydrogen, essen, fahren ans Meer. Die meiste Zeit aber haben sie Sex, leidenschaftlichen zwar, aber alles so normal, daß sich ein Gros der internationalen Filmkritik gerade über diesen Umstand empörte.

Nur, "9 Songs" ist schlicht ein Liebesfilm. Die Protagonisten sind zur Abwechslung einmal relativ unneurotisch, vergeuden ihre Zeit nicht mit sinnlosen Beziehungsdramen, wälzen keine Zukunftspläne. Winterbottom, der sich dabei dezidiert auf Michel Houellebecqs Roman "Plattform" als Vorlage beruft, zitiert auch ein wenig die Batailleschen Verschmelzungs- und Verschwendungstheorien. Dabei gelingt es ihm, zumindest zeitweise ein Stück jener Essenz einzufangen, wo es um so etwas wie Leidenschaft und Intensität geht und fast jeder Songtext nur von Liebe und ihren Begleiterscheinungen handelt. Der Zuseher sitzt sozusagen mit auf der Bettkante, am Esstisch und im Konzertsaal und zählt die Schweißperlen, Hautporen und vor Begeisterung glänzenden Augen. So altmodisch wie die verhandelten Begriffe sind die wie schon eingangs erwähnten Körperkontakte. Aber nachdem der lebensmittellastige Erotikthrill der Achtziger glücklicherweise von der Bildfläche verschwunden ist und kinky Perversionen-Orgien höchstens noch Billig-TV für kleinbürgerliche Voyeure und Seidlsche Sozialpornos füllen, ist normal sicher eher the new cool. So ist auch der Gag des unter Wert gehandelten Films nicht das häufig erwähnte Faktum, daß er 69 Minuten dauert, sondern daß die Sache mit der menschlichen Nähe der beiden trotz ostentativer Intimität offenbar auch etwas mit dem Eis der Antarktis gemein hat.

Mit diesen unpopulären Ansichten und einem netten Soundtrack etabliert sich der britische Regisseur und ziemlich produktive Genre-Hopper ("Welcome to Sarajevo", "24 Hour Party People", "Code 46") erneut als einer der interessanteren Filmemacher dieser Tage.

EVOLVER-Redaktion

9 Songs

ØØØØ


GB 2004

69 Min.

engl. OmU

Regie: Michael Winterbottom

Darsteller: Kieran O'Brien, Margo Stilley u. a.

 

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