Editorial_9. 7. 2009/Das Wort zum Donnerstag

Fast Mitternacht, in der U-Bahn

Von wegen weltliche Versuchungen - als Geistlicher ist man froh, wenn sich nach einem Ausflug in die Wirklichkeit die Kirchentüren wieder hinter einem schließen. Pater Michael Hass hat es sich viel Geld und Nerven kosten lassen, mit den Wiener Linien zu fahren.    15.07.2009

Es ist ein paar Stunden - und eine unruhige Nacht - her, da hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, nach einer erbaulichen Bibelstunde mit der U6 ins Pfarrhaus heimzureisen. Für Nicht-Wiener und solche, die das Privatauto den "Öffis" genannten mobilen Fegefeuern vorziehen: Die U6 verkehrt auf der Trasse der ehemaligen Stadtbahn und ist in dem Sinne keine echte U-Bahn, da sie große Teile ihrer Strecke oberirdisch zurücklegt, beispielsweise über die alten Stadtbahnbögen am Gürtel, die vor einigen Jahren mit Jugendlokalen, schicken Bars und anderen Scheußlichkeiten "revitalisiert" wurden. Das Ergebnis dieser Belebungspolitik konnte ich gestern abend miterleben - und dabei auch aus erster Hand erfahren, warum leidgeprüfte Einheimische die U6 auch gern als "Drogen-Droschke" bezeichnen.

Als bei einer Station zwei stark geschminkte Damen aus fernen südlichen Landen ausstiegen, tauchte er das erste Mal aus den Abgründen des Waggons auf: ein zu klein geratener, schmächtiger Mensch mit schlechter Haut, dessen narbige Hand sich an die Haltestange vor meinen Augen klammerte, während er den Mädchen durch die offene Tür zurief: "Wollma nich ma was gemeinsam unternehm´?" Unter heftigem Kopfschütteln traten die beiden die Flucht an (ohne sich umzudrehen - sonst wären sie wahrscheinlich zu Salzsäulen erstarrt), was den bundesrepublikanischen Charmeur dazu veranlaßte, noch eine Zeitlang sinnlos herumzuwackeln, bevor er sich wieder auf die Sitze hinter mir zurückbegab.

Dort begann er dann einem pickelübersäten, billigtätowierten jungen Einheimischen, der offenbar aus der Baumschule direkt in die Wiener Drogenszene aufgestiegen war, seine Lebens- und Geschäftsphilosophie zu referieren:

„So´n Ecstasy oder´n Roiperl wär jetzt geil, wa? Aber ich hab nur diese Schlafmittel, die turn´ lang nich so gut. ... Ach, Mensch, ja, Kola, hab ich schon seit drei Jahrn nich genomm´ ... is wegn den Medikamentn, weißte?

Ich hab doch seit drei Jahrn AIDS und das wird nich besser, aber da trau ich mir nur mehr Opiate einzuwerfen, verstehste. Heroin beruhigt einfach. Haste übrigens die Frau gesehn, die da grad ausgestiegen is? ´n Hammer, was? Is aber auch ein Elend mit den Weibern: Wenn ich mal eine habe, dann geht das grad ´n paar Monate gut, und dann kommt irgendso´n blöder Vater daher, oder die Mutter oder die Schwester, und die redn der ein, daß sie das lassn soll mit mir, wegen dem AIDS. Ja, was soll ich denn machn, soll ich mir vielleicht ne Gummipuppe kaufn oder was?! Wenn ich mit der Frau von vorher was gemacht hätte, kannste dir vorstelln, da hättn mich die Brüder von der wahrscheinlich an ´n Eiern aufgehängt. Hab ja Gelbsucht auch, weißte?"

"A, B oder C?" warf der Nachwuchsdrogist aus der Wiener Vorstadt fachkundig ein.

"Die gefährlichste, is doch klar. Die geht nich mehr weg. Der Arzt hat gesagt, er versucht da jetzt mal ´ne Therapie, aber wenn ichs in drei Monaten nicht geschafft habe, dann bin ich weg, dann kratz ich ab. Die kümmern sich ja um nix bei unsereim. Ich hab mal gelesen, daß da bald ´n neuer AIDS-Virus kommt, da gehn dann alle drauf, da gibts dann mal drei Milliarden Tote oder so."

"A Wahnsinn", warf sein Gesprächspartner desinteressiert ein.

"Du, und wenn mir einer blöd kommt, weißte, dann hau ich den blau. Vor ´n paar Wochn hat mir so´n Typ eine geknallt, da bin ich umgekippt, hab den aber noch im Liegen in die Eier getreten, und dann noch ´n paar feste ins Gesicht. Hier, da hast du ´n Dominal auch noch, is nich so gut wie Eitsch, fährt aber auch ordentlich ein. Ich muß dann mal raus, OK? Paß auf dich auf, Alter, und nich gemeinsam nehm´, die Dinger."

Geld und Ware wurden übergeben, und dann verließ der Besucher aus dem Nachbarland, Verzeihung, Mitbürger aus dem Vereinten Europa, den Wagen. Die U-Bahn-eigenen Überwachungskameras zeichneten - wie immer - alles brav auf, was jedoch - wie immer - zu keinerlei Konsequenzen führte. Der freie Markt darf schließlich nicht gestört werden. Und wir dürfen nie vergessen, daß all das eine wahnsinnig wichtige Bereicherung für uns ist, so wie sie´s bei den Fernsehdiskussionen immer sagen.

Ich durfte jedoch erleben, daß mir in meinem christlichen Gemüt ein paar alttestamentarische Visionen vorschwebten. Die von Sodom und Gomorrha zum Beispiel, oder die vom Turm zu Babel, wo man vor lauter Sprachenvielfalt die Stimme der Vernunft überhörte - mit den bekannten Folgen.

Pater Michael Hass

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