Air - Pocket Symphony
EMI (F 2007)
Die Schatten der Vergangenheit sind lang - besonders für die zwei Männer, die einst als Erneuerer angetreten sind. Mittlerweile machen sie einfach nur gute Musik, findet Manfred Prescher. 25.06.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"Im japanischen Meer vor langer Zeit/Hab ein Mägdlein ich gefreit/ Blickte sie mich dann aus Mandelaugen an/Zog sie mich direkt in den Bann/Verschlungen lagen wir an Deck/Das Boot schaukelte über derweil übern Wasserweg ..."
Ach, diese Zeilen klingen so anrüchig und zugleich auch so romantisch, nur leider sind sie nicht von Air. Nicolas Godin und Jean Benoit Dunckel dichten anders. Bei ihnen heißt es weniger blumig und wesentlich knapper: "Im japanischen Meer habe ich meinen Verstand verloren." Im fahlen Licht der lüsternen "Moon Safari" betrachtet, bedeutet dieser Satz natürlich genau das gleiche, läßt aber mehr Raum zur Deutung. Will man die Exegese schon erledigt haben, während die Musik läuft, werden einem von Air dafür drei Minuten und vier Sekunden zugemessen. Auf andere Sätze muß dabei keine Rücksicht genommen werden, denn "Mer du Japon" hat nicht mehr zu bieten. Die Worte werden von einer sanften, nicht allzu flotten Melodie transportiert, die ihrerseits wieder vorzüglich für das Klischee vom Techtelmechtel unter exotischen Gefilden geeignet wäre, prächtiger Sonnenuntergang am weiten Horizont inklusive.
"Mer du Japon", die neue Single des französischen Duos, gehört zum Besten, was die beiden seit langem gemacht haben. Die Nähe zum schwerelos im Pop-Raum schwebenden 1998er-Meisterwerk "Moon Safari" ist so deutlich zu erkennen, daß mir schon beim ersten Hören zwei Fragen durch das Gebälk rauschten: Erstens: Warum klingt der damals frische Sound immer noch nicht fad und abgestanden? Und zweitens: Was haben Air eigentlich seit dem Hit-Album gemacht? Daß der elektronische Klangkontext heute mehr denn je nach Supermarkt-Kaufanreiz-Berieselung oder pseudo-gediegener Fahrstuhl-Beschallung klingen kann, haben Dunckel und Godin längst zur Genüge bewiesen. Und das beantwortet auch gleich die zweite Frage.
Bei "Talkie Walkie" oder "10.000 Hz Legend" habe ich einfach abgeschaltet. Zum einen Ohr rein und zum anderen raus - ohne weh zu tun, und damit sofort aus meinem Gedächtnis verschwunden. Aus solchem Material lassen sich sicher prima Soundtracks für Filme machen, die an der Nahtstelle von Kommerz und Autorenkino entstehen, wie etwa "The Virgin Suicides", das Regie-Debüt von Sofia "Lost In Translation" Coppola. Die synthetische Lounge-Langeweile, die Air dafür komponierten, paßte perfekt. In der heimischen Stereoanlage wirkte sie eher blaß. Ich war damals sicher, daß die Franzosen das Genre "DVD-Musik" erfunden haben. "DVD-Musik" soll man übrigens bitteschön nicht mit "Musik-DVD" verwechseln, denn dieses Medium wurde von den Marketing-Strategen bei Sonyversal entworfen, um die sinkenden Tonträgerverkäufe durch zusätzliches Bildmaterial und 5.1-Sound wieder anzukurbeln.
Während ein guter Song auch auf einer "Musik-DVD" ein guter Song bleibt, funktioniert "DVD-Musik" wegen der Auflösung der Liedstruktur nur im Kontext der bewegten Bilder. Dazu kommt, daß elektronische Instrumentierung in der Regel längst als zu leicht empfunden wird; es sei denn, sie hat die Power von Daft Punk oder die High-Tech-Anmutung von Kraftwerk. Deren Album "Computerwelt" klingt immer noch prozessorgesteuert und fremd - und das, obwohl die Rechenleistung in einem ewigen Prozeß des Fortschritts längst so stark potenziert wurde, wie sich das damals selbst die technikgläubigen Düsseldorfer nicht vorstellen konnten. Während die Depeche Modes und Ultravoxes, dann die House-Sounds und schließlich auch Air zum Teil des allgemeinen Konsenses wurden oder es von Anfang an waren, steht das Œuvre von Kraftwerk immer noch wie ein Monolith in einem eigens dafür geschaffenen Documenta-Raum.
Air wußten nie so recht, wohin sie tendierten: Wollten sie Künstler oder Popstars sein? Besonders gut waren und sind sie immer dann, wenn sie sich für eine Seite entscheiden und sich nicht an Fusion-Patchworks versuchen. Folglich sind die stärksten Momente auf dem aktuellen Album "Pocket Symphony" die, bei denen sie eine kommerzielle Ausrichtung wählen. In diesen Kontext passen dann auch die Gesangseinlagen von Neil Hannon (The Divine Comedy) und Jarvis Cocker (Pulp). Godin und Dunckel sind nämlich nicht nur ausgezeichnete Musiker, sondern auch Fans. Ihr Geschmack ist so breit gefächert, daß er sich beim besten Willen nicht von Computerchips in Klangskulpturen verwandeln läßt.
Das belegt der einmalige Sampler der "Late Night Tales"-Reihe, den Air im Herbst des vergangenen Jahres zusammengestellt haben. Fernab von der allgemein üblichen Best-of-Manie bilden die Songs eine Mischung, die sich zunächst reichlich krude liest, aber doch stimmig ist. Das etwas andere Radio-Programm enthält zum Beispiel Black Sabbaths "Planet Caravan", Nino Rotas "O´ Venezia Venaga Venusia", "All Cats Are Grey" von The Cure oder Lee Hazlewoods "My Autumn´s Done Come". Die Troggs treffen auf Minnie Riperton und auf Ravel, Scott Walker auf Sebastian Tellier - womit die Eckpfeiler des luftigen Geschmacksgebäudes formuliert sind. Den direktesten Bezug zu Air und zu "Mer du Japon" haben Robert Wyatts "P.L.A." und Japans "Ghosts". Beide Stücke tarieren das Spannungsfeld von Kommerz aus, neigen sich aber eher der sperrigen Seite zu.
Das japanische Meer ist also durchaus mal eine Reise wert. Für ein Treffen mit der mandeläugigen Schönen ist die Zeit von etwas über drei Minuten zwar viel zu knapp, aber für einen poetischen Kurz-Trip reicht sie allemal. Ähnlich den Erklärungen der Flugbegleiter vor dem Abheben der Maschine läßt sich auch der Text leicht überhören. Besser ist es, sich einen eigenen Reim drauf zu machen: "Irgendwo vor Japans Küste/Küßte ich sanft ..."
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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