Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 99

Annett Louisan: "Das alles wär´ nie passiert"

Eines mal vorneweg: In diesem Falle ist eindeutig intensives Radiohören dafür verantwortlich, daß Manfred Prescher den Song im Ohr hat. Ohne Bayern 2 wäre das definitiv nie passiert.    24.09.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Ich habe das Radio wieder für mich entdeckt. Weil ich täglich eine gute Stunde über Landstraßen ins Büro zuckle, lasse ich mich von B5 mit den wichtigsten Nachrichten versorgen und erfahre so, daß eine CSU-Landrätin gerne die Ehe auf Zeit einführen möchte und die Fed wieder an der Leitzinsspirale herumschraubt.

Mit tiefergehenden Informationen versorgt mich dann Bayern 2. Dort widmet man sich mit sonst im Äther unüblicher Gründlichkeit und oft mit fast schon an Entschleunigung grenzender Beitragslänge - Features über eine halbe Stunde oder mehr sind da keine Seltenheit - einem einzigen Thema. Meine Lieblingssendung ist die "Radiowelt", von der ich an vielen Tagen die morgendliche und abendliche Ausgabe mitbekomme. Zwischen den einzelnen Beiträgen, Interviews und Kommentaren streut ein Musikredakteur jenseits der vierzig Songs, die zumindest eines verbindet: sie sind meterweit weg vom Playlisten-Einerlei der anderen Sender. Da hört man mal ein Doo-Wop-Stück aus den späten 50ern, mal Sinatra, John Hiatt, Nick Cave, Diana Ross oder Shirley Bassey. Natürlich ist auch viel fader Adult-Stoff darunter, aber manchmal rutscht sogar ein "modernes" Stück, zum Beispiel von Richard Hawley oder Rufus Wainwright, darunter.

Allein das Andersartige der Auswahl nötigt mir Respekt ab. Weil die meisten Menschen von der Mehrzahl der Interpreten noch nie gehört haben dürften und sich neben den vielen Informationen nicht auch noch auf die Abmoderation eines Songs konzentrieren können, stellt der öffentlich-rechtliche Sender die Liederlisten der jeweiligen "Radiowelt" ins Netz.

Auf dieser Website erfuhr ich dann auch, was ich da am Montag, den 17. September ab 17.19 Uhr gehört habe: Es war Annett Louisan mit "Das alles wär´ nie passiert". Die Sängerin mit der etwas piepsigen Stimme kannte ich bis dato nur vom geflissentlichen Weghören. Schon der Stallgeruch ihres Labels 105 Music, zu dem auch der Möchtegern-Soulist Stefan Gwildis gehört, zählt nicht zu den Düften, mit denen ich mich gerne umgebe. Und die Mixtur aus Chanson, Mädchencharme und Schlagerpop, mit der die junge Frau aus dem nahen Osten, aus Schönhausen/Sachsen-Anhalt, schon drei Alben lang sehr erfolgreich im deutschsprachigen Raum unterwegs ist, läßt mich "kühl, kein Gefühl". Wenn ein Debütwerk "Bohème" heißt, dann überwiegen um mich herum die drei Fragezeichen der Sinnhaftigkeit, und ich wende mich ab. Eine Platte so nennen - das darf vielleicht ein Marc Almond oder ein Seppl Verdi. Was in etwa auf das Gleiche rauskommt.

"Das alles wär´ nie passiert" ist allerdings wirklich ein nettes kleines Miststück über den Morgen nach dem großen Versumpfen, also über den Moment, an dem man sich zu erinnern versucht, ob die "Creature From The Black Lagoon" tatsächlich mit einem Bossa Nova tanzte. Solche Songs schreiben und singen normalerweise fast ausschließlich Männer. Aus dem Stegreif fällt mir da gerade "If I Can Find A Clean Shirt" von Waylon Jennings selig und Willie Nelson ein. Dort sagen sie sich gegenseitig "No I ain´t goin´ down on the border with you tonight/Drinkin´ tequila, taking chances on our lives". Der Eindruck der letzten Grenzüberschreitung, das riesige schwarze Loch, in das man in jener Nacht gezogen wurde, ist noch lange nicht verblaßt genug für eine weitere Weingeist-Empfängnis. Willie stellt fest, daß er mit frisch eingedrehten Locken aufgewacht ist, während sich Waylon über ein verrücktes Tattoo wundert, das am Tag vorher zur High-Noon-Zeit noch nicht seinen Countrysänger-Körper zierte. Trotzdem: Die Mädels waren heiß und willig, das Treiben folglich bunt, und die Mescalwürmer verrichteten ihren Job professionell - deshalb werden die beiden trotz aller Bedenken wieder gemeinsam auf die Piste gehen.

 

Dort könnten sie vielleicht Frau Louisan treffen. Die hat ihren Künstlernamen übrigens von der eigenen Oma geliehen. Kann sein, daß die über den im Lied skizzierten Lebenslustwandel nicht so erbaut gewesen wäre, denn nur wenige haben Großmütter, die freizügig wie Anita Berber durch die Etablissements der Hauptstadt der Weimarer Republik tanzten.

Wie dem auch sei: Die Enkelin ist jedenfalls ziemlich untergegangen in den Wirren einer Nacht. Schuld waren allerdings nicht der Bossa Nova mit dem Monster oder der Wurm im Glas, sondern schlichter Italoschaumwein. Denn so geht das Lied weiter: "Das alles wär´ nie passiert ohne Prosecco" - und weil das so ist, spricht nicht nur die unschuldig-kokette Stimme dafür, daß Annett nicht dauerhaft die schiefe Bahn entlangrutscht. Das Lied fängt wirklich harmlos an: ein verbotener nächtlicher Ausflug in eine Badeanstalt nebst anschließendem Zwangsbesuch bei den Sheriffs, dann ein Kuß in der Schrankwand und zwei Herzen ins elterliche Wohnzimmerfurnier geritzt, dann ab ins Nachtleben etc. pp.

Irgendwann riß jedoch Annetts privater Spielfilm und konnte bis heute nicht mehr geklebt werden: Am "Sonntagmorgen um 17 Uhr 10" wird sie vom Telefon geweckt. Noch mit Ausgehstiefeln bekleidet schreit sie "Auf die Revolution, reißt die Mucke auf - das ist mein Lied!" in die Sprechmuschel. Das Gegenüber schreibt den galoppierenden Unsinn den Drogen zu und erzählt, daß Annetts BH bei Ebay aufgetaucht sei. Derweil fragt sie sich, wie sie überhaupt nach Hause gekommen ist. Aber das ist noch nicht alles: "Himmel, Arsch, wieso bin ich gepierct und was soll dieses Schlangen-Tattoo?/Wessen Zeug liegt da auf meinem Bett und wer zum Teufel bist du?" Fragen über Fragen - und nicht mal mit der Einsteinschen Relativitätstheorie lassen sie sich schlüssig beantworten.

Aber eines ist klar: Der Abend, den die Sängerin gemeinsam mit ihrem Cheftexter Frank Ramond da in witzige Verse gepreßt hat, ähnelt in letzter Konsequenz doch sehr dem, den Waylon und Willie in ihrem 16 Jahre alten Song beschreiben. Der größte Unterschied: Annett Louisan konnte man keine Locken andrehen, sie hatte vorher schon welche. Zu hoffen bleibt allerdings, daß sie sich besser halten wird als die beiden Lebemänner. Möge sie nie so alt aussehen, wie Willie Nelson heute ist ...

Das war´s für heute, denn wie sagten schon Monty Python? "So, Ende der Fahnenstange!" Also PC aus, rein ins Auto und die "Radiowelt" überfliegen.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Annett Louisan - Das optimale Leben


105 Music/SonyBMG (D 2007) 

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