Daloco – Nicht schon wieder Revolution
Point Music (Ö 2007)
Von Obertrum an die Weltspitze? Warum eigentlich nicht - schließlich haben schon Musiker aus ähnlich pittoresken Gegenden den Sprung in die Geschmackszentren geschafft, meint Manfred Prescher. Aber er findet doch, daß man dafür ein wenig mehr bieten sollte als platte Promikritik. 18.06.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"Willst du mich verführen/Oder bist du nur zum Spaß bei mir?" fragt Daloco im Song "Du bist nicht mehr hier". Eigentlich müßte ich den Spieß umdrehen und ihn fragen, was er mir mit seiner neuen CD und speziell mit dem Song über das Bobbele antun will. Wobei - "antun" ist in diesem Zusammenhang schon ein arg garstig Wort. Denn "Boris Becker" ist ein Ohrwurm, der sich auch dann prima mitpfeifen läßt, wenn sich der Sportverstand fragt, warum sich gerade jetzt jemand mit dem Leimener Tennisspieler beschäftigt, wo doch sonst kein krankes Huhn mehr nach ihm kräht.
Es kann natürlich schon sein, daß in den tiefen Schluchten von Thomas-Muster-Land noch gar nicht realisiert wurde, daß Boris seine Karriere vor geraumer Zeit beendet hat und auch seinem Hobby - einer Verbindung von Besenkammer und braungebrannten Schönheiten - so weitgehend abgeschworen hat, daß weder "Krone" noch "Bild" allzuviel in ihren Klatschspalten schreiben können. Aber geht es in Dalocos Song wirklich um Becker oder um den Boris, der angeblich in uns allen wohnt? "Nichts auf dieser Welt/Das uns jetzt noch hält/Wir tun, was uns gefällt/Wir sind alle kleine Boris Becker", heißt es im Refrain. Echt? Alle? Was ist, wenn ich eigentlich eher Rafael Nadal wäre? Schließlich bin ich auch in echt nicht rothaarig und sommersprossig ...
Während ich mir überlege, ob der leibhaftige Boris wirklich in mir steckt und mit welchem heiligen Sportsgeist er sich im Zweifelsfalle austreiben ließe, macht Daloco eine Becker-Rolle rückwärts und singt wieder direkt von dem Mann mit der ausgeprägten Siegesfaust: "Was soll ich über Becker erzählen/Jeder von uns trifft solche Arschlöcher im Leben/Glaubt an das Gute in ihm/Ihr dürft ihn nicht aufgeben."
Ich mache mich eigentlich ungern zum Verteidiger irgendwelcher Medienrummelbetreiber, doch wenn ich diese Zeilen höre, fragt mein Gerechtigkeitssinn unwillkürlich und über alle Nervenschmerzen hinweg, die ich mit "Bummbumm-Becker" verbinde, ob Daloco den Menschen Boris B. wirklich kennt und was genau er jenem in tadellosem Pubertärdeutsch eigentlich vorhält. Vielleicht meint er ja doch wieder sich selbst (oder uns alle) - und Selbsterkenntnis ist durchaus ein Weg, mit dem sich manches zum Besseren richten läßt.
In einem anderen - musikalisch ebenfalls ansprechenden - Song namens "Radio" widmet sich Daloco Dieter Bohlen und dessen Casting-Shows und damit einem weiteren weitestgehend abgehalfterten Ex-Phänomen. Er fordert, daß die Leute kein Plastik kaufen, sondern es totbrennen sollen. Sind CDs am Ende aus Plaste und Elaste und ich habe das bloß all die Jahre nicht mitbekommen? Oder meint er, daß man seinen iPod so lange auffüllen und zumüllen soll, bis der irgendwann den Geist aufgibt? Getreu dem Motto: "Wenn der Speicher kaputt ist, werdet ihr merken, daß man das schöne Gehäuse nicht hören kann." Vielleicht will er auch, daß möglichst viele Rohlinge in gebrannte MP3-Discs verwandelt werden?
Daloco will sich jedenfalls fürderhin nicht von Bohlen, Becker und den anderen für dumm verkaufen lassen. Dabei zwingt ihn ja gar niemand, sich die Abende mit "Deuschland oder Österreich sucht den Oberdödel" zu vertreiben, wo es doch für den ambitionierten Halbintellektuellen auch noch Arte, die "Simpsons" oder von mir aus auch "Spongebob Schwammkopf" oder "Pimp My Ride" gibt. Veränderte Sehgewohnheiten eines einzelnen führen ganz bestimmt nicht zum Umsturz des (Medien)-Systems.
Es spricht einiges dafür, daß auch kollektive Verweigerung gegenüber der Bohlen-und-Reibach-Show generell nichts an der gesellschaftlichen Geschmacksstruktur ändern würde. Die Revolution, und das wissen wir seit Gil Scott-Herons Traktat, wird ohnehin nicht auf dem Flachbildschirm zu sehen sein. Medientheoretisch läßt sich formulieren, daß über jede Veränderung erst nach dem Vollzug - oder zumindest nach dem Start - berichtet wird. Für Daloco sehe ich da, auch ohne theoretische Grundsatzbetrachtung, erst mal schwarz. Für Kritik ist eher Grönemeyer zuständig, und für den Spaß sorgen Bela, Farin und Rod. Bei denen klingen Pennäler-Jokes irgendwie natürlicher und dadurch auch witziger. "Dieter Bohlen, ich klau´ dir deinen BMW" oder "Ich ziel´ beim Aufschlag immer direkt auf die Beine" - darüber lacht seit "Der Tag, an dem Thomas Anders starb" (Die Goldenen Zitronen) oder "Los, Paul, du mußt ihm voll in die Eier hau´n" (Trios Forderung an Paul Breitner) kein Mensch mehr. Plötzlich weiß man sogar, was man an der EAV hatte ...
Und einen Umsturz löst Daloco natürlich auch nicht aus. "Nicht schon wieder Revolution" heißt seine zweite CD - aber da braucht er wirklich keine Angst zu haben. Von dieser teilweise doch arg platten Platte über Promis, TV-Gewohnheiten und die Flucht der Obertrumer Jugend nach Berlin oder New York geht keine Gefahr für irgendein System aus. Da sind schon andere mit deutlich kritischeren und besser ausformulierten Texten gescheitert. Von Bob Dylan wissen wir schließlich, daß ein Pop-Song kein politisches Instrument sein kann. Und der Mann weiß, wovon er schnarrt.
Also wird das wirklich schmucke Uniformjäckchen, das Daloco auf dem Cover trägt, nicht mit dem Blut irgendwelcher Feinde besudelt werden und auch der Anwalt von Herrn Becker wird über das "Arschlöcher" hinweghören. Wenn mich jemals was mit Boris und seiner Mischpoke verbunden hat, dann dürfte es dieses gemeinsame Weghören sein. Dem Künstler empfehle ich ein Textstudium bei Peter Hein von den Fehlfarben.
Wie heißt es im Märchen? "Daloco: 'Spieglein, Spieglein, im Regal, wer ist der beste Texter hier im Saal?' Spiegel: 'Ihr seid es bei uns in Obertrum und der Umgebung hier, doch über den Bergen gibt es welche, die sind wesentlich besser als Ihr.'"
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
Daloco – Nicht schon wieder Revolution
Point Music (Ö 2007)
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die fünfte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Lana Del Rey.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die vierte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Charlotte Brandi & Dirk von Lowtzow.
Kommentare_