Deborah Harry - Necessary Evil
Eleven Seven Music/Universal (USA 2007)
Drei Wochen ohne Miststück, da bekommt man Entzugserscheinungen - zumal sich in dieser Zeit eigentlich doch so gut wie nichts verändert hat. Also geht es ein vorerst letztes Mal um Plattenfirmen, sagt Manfred Prescher. 22.10.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Wie ging die Geschichte noch mal? "Großmutter, warum hast du so große Ohren?" fragt der Enkel. "Damit ich besser die Zwischentöne hören kann", antwortet die Oma. So richtig zufrieden ist das Kind noch nicht, also löchert es die Alte weiter: "Großmutter, warum hast du so einen großen Mund?" Auch darauf weiß die Dame etwas zu erwidern: "Das ist, damit ich besser singen kann." Der Nachwuchs gibt aber immer noch keine Ruhe und fragt ein drittes Mal: "Aber Großmutter, warum hast du so eine modische Blondhaarfrisur?"
Da überlegt Oma kurz, bevor sie schließlich antwortet: "Das ist zum einen, damit ich weiterhin junge Kerle vernaschen kann, zum anderen aber, weil ich nun mal Blondie bin. Und jetzt geh zu deinem iPod, hör Kelly Clarkson und laß mich in Ruhe."
Eines muß man der jungen Generation wirklich mit Nachdruck sagen: Debbie Harry war der hübsche und clevere Kopf von Blondie - und die waren in grauer Vorzeit, als die Dinos noch 17 Meter lange Hälse hatten, so ziemlich das coolste Stück Chart-Pop überhaupt: die Hochdruckausläufer von New Wave und das Gegenstück zu Siouxsie Sioux, die mit ihren Banshees eher aus düsterer Punk-Verzweiflung heraus agierte und einmal, noch viel früher, sogar mit Sid Vicious liiert war. Die Londonerin Susan Janet Ballion, weiblicher Häuptling vom Stamm der Depro-Indianer auf der einen Seite des Atlantiks; Deborah Ann Harry, die blonde Power-Wave-Disco-Queen aus Miami auf der anderen. Hier pechschwarze Haare, dort "two-tone bottle-blonde hair", wie das die US-Friseurinnung nennt. Beide Frauen prägten die frühen 80er Jahre, wobei Debbie schon damals kein Teenager mehr war. 1980 durfte sie ihren 35. Geburtstag verschweigen, während Siouxsie damals erst 23 Jahre alt wurde. Heute sind die beiden Grande Damen mit neuen Alben wieder aktiv. Und man sollte nun wirklich nicht von der Menge der aufgetragenen Anti-Aging-Cremes auf die Qualität der Songs schließen ...
Zwei Dinge haben Siouxsies "Mantaray" und Blondies CD "Necessary Evil" gemeinsam: Zum einen sind beide Platten besser als das meiste, was die musikalischen Enkel so zuwegebringen, zum anderen wird das kaum jemand mitbekommen. Denn egal, wie rüstig sich die beiden Künstlerinnen auch präsentieren und wie flott sie im Vergleich zu den "Starsearch"-Kiddies auch unterwegs sein mögen, sie entsprechen nicht den Jugendwahnvorstellungen einer kranken Medienindustrie. Weil da auch kein Anti-Aging-Mittel hilft, bleiben für beide Frauen höchstens Marketing-Brosamen übrig.
Vielleicht sollten sich Siouxsie und Blondie der Karawane der Abtrünnigen anschließen, die auf neuen Wegen durchaus erfolgreich versucht, der verlorengegangenen Menschheit vernünftige Musik wieder nahezubringen. Radiohead verkaufen ihr Album "In Rainbows" als 160 Kilobit-MP3 zuerst einmal nur über ihre Webseite und haben damit schon mehr Fans erreicht als der EMI-Konzern mit den Vorgängeralben. Madonna verläßt Dauerpartner Warner und bindet sich an den Konzertveranstalter Live Nation, der sich auch um die Tonträger und deren Vermarktung kümmern wird. Internet-Pionier Prince und Ray "Kinks" Davies ließen bzw. lassen ihre aktuellen CDs zunächst via britischer Sonntagspresse vertreiben und sprechen so Menschen an, die schon seit Ewigkeiten keinen Plattenladen mehr von innen gesehen haben und iTunes wahrscheinlich für Fischkonserven halte (was der Wahrheit allerdings auch ziemlich nahekommt).
Debbie Harry sollte daher unbedingt mit Allen Kovac - dem Chef ihres Labels Eleven Seven Music - reden, damit der schleunigst die Vertriebsverträge mit Universal Music löst. Wenn sie wirklich mehr Leute erreichen will als zum Beispiel die 10.000 Amerikaner, die ihr letztes, 1993 erschienenes Solowerk "Debravation" kauften, bleibt ihr gar nichts anderes übrig.
Verdient hätte sie es allemal, was schon die Single "Two Times Blue" beweist. Aber was heißt denn Single? Über das Internet läßt sich der Song zwar erwerben, und in den USA liegen bei Amazon real existierende CDs auf Halde, aber ob er in Europa offiziell herauskommen wird, steht in den Sternen. Und niemand weiß eine Antwort: Obwohl nämlich die Presseseite von Universal dazu da ist, die Schreiberlinge mit Vorabinfos zu versorgen, bleibt sie die Antwort auf diese Frage schuldig. Und nicht nur darüber schweigt sich der moribunde Multimedia-Moloch aus. Es gibt nichts über die Künstlerin, keine Biographie, kein Photo und auch keine Daten über das Album, das laut Amazon.de bereits am 26. Oktober veröffentlicht werden soll. Bei soviel Informationsververweigerung werden nur diejenigen Spatzen den Lobgesang über "Necessary Evil" pfeifen, die auf den Dächern der Häuser von wahrlich eingefleischten Fans sitzen.
Um zu solch einer Behauptung zu gelangen, muß man weder "Miststück"-Autor noch Prophet sein. Es genügt, zu wissen, daß die Mitte September erschienene CD von Siouxsie mit den Hitlisten nicht in Berührung kam, obwohl genau das heutzutage kein Hexenwerk ist. Wenn Sie also jemanden kennen, der die Platte gekauft hat, dürfte das in Ihrem Bundesland der einzige sein. Er ist dann ein bewundernswerter Mensch, der zu einer kaum zu überbietenden Sphäre der Individualität aufgestiegen ist.
Für alle anderen - und für die beiden New-Wave-Diven - tut es mir leid. Auch wenn es keiner ahnt: Wir brauchen diese Ladys noch. Die passenden letzten Worte gehören daher Debbie Harry, die mittlerweile mit einer rauchig tiefen Stimme singen kann, die klingt, als habe man in einem Whisky-Bad Nico und Marlene Dietrich gekreuzt: "So how can we get back to basics before I go down for the count/Because I know, yes I know/You´ll be two times blue If I go."
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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