Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen
Rücksturz
Dr. Trash empfiehlt: Meiden Sie Retro und werden Sie nicht nostalgisch. Das Schönste an der Vergangenheit ist schließlich, daß sie vorbei ist. Gelegentlich - wie in dieser Kolumne vom Oktober 2004 - nimmt man ein altes Zeitgeistbuch zur Hand, blättert es durch und freut sich, daß man selbst nicht auf der Müllhalde der Geschichte gelandet ist.
05.09.2007
"Einst im März ..." hätte der Doc beinahe geschrieben, doch es läßt sich nicht verhehlen: Die 70er Jahre waren schrecklich.
Der Doc darf das sagen, weil er schon so alt ist, daß ihm manchmal selber ganz schwindlig wird, wenn er in seinen Reisepaß schaut. Er hat die sogenannten Seventies erlebt, zum Teil noch unter elterlicher Aufsicht, aber schon halb bei Bewußtsein. Und kein Revival ändert etwas an der Tatsache, daß sie ein grauenhaftes Jahrzehnt waren: Im Radio liefen ABBA (die schlecht waren und immer schlecht bleiben werden) und Münchner Disco-Sound, das Volk trug glockige Jeanshosen mit gelben (!) Hemden, und die Hippies fingen nach dem jämmerlichen Scheitern ihrer Revolution an, sich die Macht zu erschleichen. Da blieb dem heranwachsenden Menschen nur die Flucht in die Literatur.
Aber auch die war damals progressiv. Jeder konnte, durfte, mußte plötzlich schreiben, weil jeder ein Künstler war. Irgendwie. Wer Marx angelesen hatte, schrieb politisch; wer gegen das Establishment gebumst war, Verzeihung: hatte, schrieb halbpornographisch; wer vom konventionellen Roman genug hatte, schrieb experimentell. Und der kleine Doc las. Und staunte.
Gute Tips für Neugierige waren damals neben der hervorragenden "Das neue Buch"-Reihe von Rowohlt (die mit dem rosa Rand) die provokant gelb-roten MÄRZ-Bücher des exzentrischen Verlegers Jörg Schröder. Die handelten alles ab, was Progressiven lieb und teuer war, von Jim Morrison über die sexuelle Befreiung und den Beginn des "Beziehungs"-Terrors bis hin zur antiautoritären Erziehung. Und irgendwo dazwischen fanden sich dann auch Klassiker der modernen Literatur wie etwa Upton Sinclairs Der Dschungel. Mußte man lesen und gelesen haben. Bis zum MÄRZ-Konkurs - und dem viel später folgenden Niedergang des Verlags.
Doch Schröder ist nicht unterzukriegen: Er und Bruno Hof fungieren im neuen Jahrtausend als Herausgeber des 13-Bände/6000-Seiten-Konvoluts Die große MÄRZ-Kassette, das sowohl Neulinge als auch Veteranen interessieren sollte.
R. D. Brinkmann und R. R. Rygulla wiederum gaben 1969 bei MÄRZ den "Reader" (ach, was waren wir damals modern!) ACID heraus, in dem die neue amerikanische Literatur und Comic-Szene der Hippie/Spät-Beat-Ära zu Wort kamen. Auch der wurde jetzt neu aufgelegt; wie die Kassette übrigens im fleißigen Area-Verlag, der dem Reprint-Wesen auf den deutschsprachigen Buchmarkt wieder zu einer Renaissance verhilft, und zwar zu moderaten Preisen. Das bedeutet zwar billiges Papier und instabile Schuber, aber wenn Sie jetzt noch nicht begriffen haben, daß es um den Inhalt geht, Mann!, dann haben Sie die Siebziger wahrscheinlich nicht erlebt.
Sie Glücklicher.
Dr. Trash
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